Nouripour fragt nach afghanischen Flüchtlingen
Sie fliehen zu Tausenden vor dem Krieg in ihrem Land: Inzwischen sind Afghanen nach Syrern die zweitgrößte Gruppe von Flüchtlingen. Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière (CDU) hat vor diesem Hintergrund angekündigt, den faktischen Abschiebestopp für bereits abgelehnte afghanische Asylbewerber aufzuheben. In der Fragestunde des Bundestages (18/5629) am Mittwoch, 4. November 2015, ab etwa 13.35 Uhr fordert Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, die Bundesregierung auf zu erklären, wieso sie afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland abschieben will, obwohl viele deutsche Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit aus Sicherheitsgründen von dort abgezogen wurden. Der Abgeordneten aus Frankfurt am Main hält deshalb dem Bundesinnenminister vor, wider besseres Wissen Afghanistan zum sicheren Herkunftsland zu erklären, nur um nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. „Das ist zynisch“, kritisiert Nouripour im Interview:
Herr Nouripour, während die Bundesregierung Afghanistan zu einem sicheren Herkunftsland erklärt, richtet sich die Bundeswehr darauf ein, länger am Hindukusch zu bleiben. Wie passt das zusammen?
Gar nicht. Ich glaube, dass Minister de Maizière angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen die Panik ergriffen hat. Aber statt sich zu kümmern, dass die Kommunen die nötige Unterstützung bekommen, damit sie die hier Ankommenden gut unterbringen können, versucht er, Flüchtlinge schnell wieder abzuschieben. Für ein solches Vorgehen braucht es natürlich eine Begründung – und darum erklärt er, dass die Lage in Afghanistan sicher sei. Als früherer Verteidigungsminister müsste de Maizière es besser wissen.
Kann die Bundesregierung einfach von einem Tag auf den anderen entscheiden, Flüchtlinge, die bislang aufgrund der unsicheren Situation in ihrer Heimat geduldet wurden, doch zurückzuschicken?
Sie kann das, aber sie muss damit rechnen, dass es zu Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommen wird. Ich gehe fest davon aus, dass die Richter in Straßburg Zeitung lesen und wissen, dass eine Großstadt – wie zuletzt Kundus im September – innerhalb von 24 Stunden an die Taliban fallen kann. So ist die Lage in Afghanistan. Ich war selbst vor wenigen Wochen dort und habe unter anderem mit unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Akteuren gesprochen. Deren größte Sorge ist, dass sich das, was in Kundus passiert ist, auch in Kabul wiederholen könnte. Angesichts dessen zu erklären, dass Afghanistan sicher ist, empfinde ich als höhnisch.
Der für Flüchtlingsfragen zuständige afghanische Minister Sayed Hussain Alimi Balkhi hat eine Wiederaufnahme der aus Deutschland abgeschobenen Asylbewerber aufgrund der fragilen Sicherheitslage erst abgelehnt. Doch nun lenkt die afghanische Regierung offenbar ein.
Es gab in der Vergangenheit auch zwischen Iran und Afghanistan immer wieder Situationen – vor allem als Mahmud Ahmadinedschad iranischer Präsident war –, in denen die Androhung einer Massenabschiebung von afghanischen Flüchtlingen benutzt wurde, um die afghanische Regierung unter Druck zu setzen. Denn es war klar, dass Afghanistan mit einer größeren Zahl von Rückkehrern völlig überfordert sein würde. Ich finde nicht, dass sich Herr de Maizière benehmen sollte wie Ahmadinedschad.
Sie haben nach Ihrer Afghanistanreise von Perspektivlosigkeit und einer „Exodus-Stimmung“ im Land berichtet. Ist die Sicherheitslage also gar nicht die Hauptfluchtursache?
Doch, die Sicherheitslage ist der wesentliche Grund, weshalb so viele Afghanen ihr Land verlassen. Die Situation ist dort hochdramatisch – das wird von den Menschen auch so empfunden. Sie haben das Gefühl, ihre Städte fallen so leicht wie Kartenhäuser.
Angesichts der steigenden Zahl von Flüchtlingen und der Probleme, diese unterzubringen: Haben Sie nicht auch Verständnis für den Versuch, die Flüchtlinge davon abzuhalten, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen?
Ich habe großes Verständnis für die Kommunen, die in kürzester Zeit Flüchtlingsunterkünfte aus dem Boden stampfen müssen. Ich habe auch Verständnis für alle, die sagen, wir müssen den Menschen in Afghanistan so helfen, dass sie nicht gezwungen sind, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Überhaupt kein Verständnis aber habe ich dafür, dass man eine hochdramatische Sicherheitslage schönredet, damit man keine Flüchtlinge mehr aufnehmen muss. Das ist zynisch. Und denen, die 50 Prozent der afghanischen Asylbewerber zurückzuschicken wollen, möchte ich sagen: Das Asylrecht kennt keine Quoten. Es geht um Schutzbedürftigkeit.
Viel ist die Rede davon, dass die Ursachen von Flucht und Abwanderung in den Herkunftsländern bekämpft werden müssen. Welche Chance sehen Sie dazu in Afghanistan?
Ein besonders großes Problem in Afghanistan ist derzeit ein psychologisches: Nach der Präsidentschaftswahl im letzten Jahr war die Stimmung geradezu euphorisch. Als ich damals dort war, habe ich in leuchtende Augen und lachende Gesichter gesehen. Den afghanischen Sicherheitskräften war es gelungen, die Wahl abzusichern, darauf waren alle stolz. Die Leute hatten wieder Hoffnung geschöpft, dass ihr Land eine Zukunft hat. Dann eroberten die Taliban – wenn auch vorübergehend – Kundus. Das hat die Stimmung komplett gedreht. Viel hängt jetzt davon ab, ob wir den Afghanen das Gefühl geben können, dass wir die Versprechen der letzten Jahre einhalten und weiterhin auf ihrer Seite stehen.
Wie könnte das konkret aussehen?
Wenn beispielsweise die Bundeswehr länger im Land bliebe, wäre das ein Signal an die Afghanen, dass wir sie nicht ihrem Schicksal und den Taliban überlassen. Wir brauchen zudem ein sicheres Umfeld, in dem Entwicklungshilfeorganisationen wieder ihre Arbeit tun können. Wie wir das schaffen, darüber sollten wir diskutieren. Auf keinen Fall dürfen wir die Augen davor verschließen, wie dramatisch die Sicherheitslage in Afghanistan wirklich ist.
(sas/02.11.2015)