Vor 25 Jahren: Volkskammer beschließt Beitritt
Vor 25 Jahren, am 23. August 1990, hat die frei gewählte Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 beschlossen. Erst während der Sitzung gelang es den Abgeordneten, sich auf dieses Datum zu einigen. Es ist eine historische Stunde, die die große Mehrzahl der Deutschen verschlafen haben dürfte: Am 23. August 1990, kurz vor drei Uhr morgens, beschließen die Abgeordneten der Volkskammer auf einer tags zuvor von Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) einberufenen Sondersitzung den Beitritt ihres Landes zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung zum 3. Oktober 1990.
Vorausgegangen ist der Abstimmung, deren Ergebnis mit 294 Ja-Stimmen gegen 62 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen deutlich ausfällt, eine emotional geführte Debatte. Dabei geht es nicht um das Ob und das Wie - das ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse im ostdeutschen Parlament, der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in der DDR und der weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit der Bundesrepublik und den Siegermächten in dieser Frage längst beschlossene Sache -, sondern ausschließlich um das Wann.
Der Fahrplan und die Macht des Faktischen
Denn darüber ist in der DDR-Regierungskoalition in den Wochen zuvor ein heftiger Streit entbrannt. So fordern die Liberalen und die SPD angesichts der instabilen Lage im Land, die DDR solle noch vor den für den 2. Dezember 1990 geplanten gesamtdeutschen Wahlen der Bundesrepublik beitreten, die Fraktion der Deutschen Sozialen Union (DSU) plädiert am 17. Juni 1990 gar für den sofortigen Beitritt.
Beides lehnt de Maizière zunächst ab; er hält am ursprünglichen Fahrplan zur deutschen Einheit fest, der einen Beitritt erst nach den Wahlen im Dezember vorsieht. Doch die Macht des Faktischen wirft diesen Plan über den Haufen: Im Sommer 1990 steht die DDR kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps; höchst unwahrscheinlich, dass sie das laufende Jahr ökonomisch und finanziell überstehen kann.
Sondersitzung der Volkskammer
Nach Absprache mit Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) versucht der ostdeutsche Regierungschef nun, sich mit den Spitzen der anderen Fraktionen in der Volkskammer auf den 14. Oktober 1990 als Beitrittstermin zu einigen.
Doch die SPD, die am 19. August 1990 das Regierungsbündnis aus Protest gegen eine Kabinettsumbildung verlassen hat, beharrt auf dem 15. September als Beitrittsdatum. Auch Bündnis 90/Grüne und PDS erteilen de Maizière eine Absage. Der beruft daraufhin für den 22. August 1990 um 21 Uhr eine Sondersitzung der Volkskammer ein, auf der über den Antrag der DSU auf sofortigen Beitritt und den seiner eigenen Fraktion über einen Beitritt am 14. Oktober abgestimmt werden soll.
„Lasst uns endlich Taten sehn“
Die Position der DSU-Fraktion macht auf dieser Sitzung mit markigen Worten ihr Sprecher Jürgen Schwarz deutlich: „Mehrere prominente Mitglieder dieses Hauses sagten, dass sie die Terminspielerei satt hätten“, so der Abgeordnete. „Ob Juni, August, September, Oktober, jeder Tag kostet Millionen von Mark, jeder Tag behindert Entscheidungen, jeder Tag beweist, dass die Krise, dass der Zusammenbruch offensichtlicher wird. Der Worte sind genug gewechselt, nun lasst uns endlich Taten sehn!“
Als nächster ergreift Günther Krause (CDU) das Wort - und signalisiert Gesprächsbereitschaft seiner Fraktion über einen Beitritt zum 3. Oktober 1990.
„Einheit in würdiger Form herstellen“
Früher sei ein Beitritt nicht möglich, weil man erst noch das Außenministertreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) am 1. und 2. Oktober in New York abwarten müsse, bei dem die 35 Mitgliedstaaten offiziell von den Vereinbarungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags in Kenntnis gesetzt werden sollen.
„Aus unserer Sicht ist es vertretbar“, so Krause etwas verklausuliert, „unter dem Aspekt, dass dieses Haus auch gemeinsam den Willen hat, in dem Zeitraum bis zum frühesten Beitrittstermin - der nach unserer Meinung der 3. Oktober sein kann - ernsthaft an dem Einigungsvertrag und an der Realisierung von noch weiteren Gesetzen zum Einigungsvertrag zu arbeiten, die Zeit zu nutzen, um in einer würdigen Form die deutsche Einheit herzustellen.“
„Wer soll das noch verstehen?“
Heftige Kritik an der „permanenten Termindiskussion“ übt Gregor Gysi: „Nun habe ich in den ersten Beiträgen hier jetzt vier Termine gehört, also den der DSU für heute - die DSU beantragt ja immer für den gerade laufenden Tag, also ist er heute für heute -, den der SPD für den 15.9., den im schriftlichen Antrag der CDU/DA für den 14.10. und, wenn ich Herrn Staatssekretär Krause richtig verstanden habe, jetzt für den 3.10.“, so der damalige Vorsitzende der PDS-Gruppe in der Volkskammer. „Nun frage ich mal im Ernst: Welche Bürgerin und welcher Bürger dieses Landes soll das eigentlich nachvollziehen und noch verstehen, was hier diesbezüglich passiert?“
Schließlich einigen sich die Fraktionsspitzen von CDU/DA, DSU, F.D.P. und SPD auf einen gemeinsamen Abänderungsantrag, der den 3. Oktober als Beitrittstermin vorsieht. Nach seiner Annahme noch in derselben Sitzung zu nachtschlafender Zeit erheben sich die meisten Abgeordneten der beteiligten Fraktionen und applaudieren.
„Den Untergang der DDR beschlossen“
Sichtlich bewegt tritt Gysi ans Rednerpult, um eine persönliche Erklärung abzugeben: „Frau Präsidentin! Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen“, so der PDS-Chef.
„Ich bedaure, dass die Beschlussfassung im Hauruckverfahren über einen Änderungsantrag geschehen ist und keine würdige Form ohne Wahlkampftaktik gefunden hat; denn die DDR, wie sie auch immer historisch beurteilt werden wird, war für jeden von uns - mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen - das bisherige Leben.“
„Tag der Freude für alle Deutschen“
Noch am gleichen Tag gibt Kohl im Deutschen Bundestag in Bonn eine Regierungserklärung zur Entscheidung der Volkskammer ab: „Der heutige Tag ist ein Tag der Freude für alle Deutschen“, so der Kanzler.
„Am Mittwoch, dem 3. Oktober 1990, wird der Tag der Wiedervereinigung gekommen sein. Es wird ein großer Tag in der Geschichte unseres Volkes sein. Nach mehr als vierzig Jahren geht in Erfüllung, wozu die Präambel des Grundgesetzes “das gesamte Deutsche Volk„ auffordert: in freier Selbstbestimmung die Einheit und die Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ (nal/17.08.2015)