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Parlament

Hettches Pfaueninsel als Parallelwelt vor Berlin

Zwei Männer stehen nebeneinander

Thomas Hettche, Wolfgang Thierse bei der Autorenlesung (© DBT/Melde)

Auf eine literarisch-kulturgeschichtliche Reise nahm der Autor Thomas Hettche seine Zuhörer am Dienstag, 30. Juni 2015, im Schadow-Haus des Deutschen Bundestages mit. Auf der Pfaueninsel schufen sich vor 200 Jahren die Preußenkönige ihr Refugium, ein Gartenidyll samt Lustschloss, eine Parallelwelt unmittelbar vor den Toren Berlins. Hettche lässt in seinem gleichnamigen Roman diesen verwunschenen Ort lebendig werden – und mit ihm und seinen Menschen die Zeit des 19. Jahrhunderts, mitsamt ihren Entwicklungen und Widersprüchen. Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., sprach im Rahmen der Lesung mit dem Autor über das Werk und dessen Bezüge zur Gegenwart.

Der Roman erzählt die tragische Lebens- und Liebesgeschichte des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie von 1810 bis 1880, die als zwergenhafte Figur zum Personal der königlichen Familie auf der Insel gehörte. Aus der Perspektive der kleinen Inselbewohnerin entdeckt der Leser diesen „faszinierenden, weltvergessenen Ort“, wie Hettche den Schauplatz seines Buches nannte – und: die damalige Welt, gefiltert, in Form der Nachrichten, wie sie auf der Pfaueninsel ankamen.

Thierse: Hettche hat einen großen Berlin-Roman geschrieben

Wolfgang Thierse hob diesen Kunstgriff der „Engführung“ – der  Erzählung eines langen Jahrhunderts aus der Perspektive einer kleinen Insel und einer kleinen Frau – hervor, einer Person übrigens, von der nicht viel mehr überliefert ist als ihre Lebensdaten. Ob Hettches gleichermaßen kenntnisreiche wie bewegende Berlin-Erzählung ein historischer Roman sei, wollte Thierse wissen.

In erster Linie habe ihn – aus eigener Anschauung – zunächst die Insel als ein quasi vergessenes Stück Berlin und als Gartenkunstwerk fasziniert, sagte Hettche, und bei Recherchen sei er auf die Figur der Marie gestoßen – ein Zufallsfund. Das historische und das Berlin-Wissen aber, das in dem Buch steckt, diene ihm in erster Linie dazu, seine Leser in den Roman hineinzuziehen.

Es gehe ihm darum, sich genau in die historischen Räume hineinzudenken, die den Menschen damals zur Verfügung standen. Im Mittelpunkt aber stünden die Emotionen seiner Protagonisten. Die emotionalen Muster, damals wie heute, seien sich doch sehr ähnlich. Ihn habe interessiert, wie seine Protagonisten ihren gesellschaftlichen Stand empfunden und in dieser Rolle interagiert hätten.

Hettche behandelt aktuelle Fragestellungen

Thierse unterstrich, dass nicht nur die Frage der historischen Distanz oder Nähe zur heutigen Zeit zum Reiz des Werkes beitrage, sondern dass Hettche in seiner Geschichte vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Abweichung in der Gesellschaft auslote: Nur in der Exotenwelt der Insel hatte die zwergenhafte Marie eine anerkannte Funktion, spielte sie eine Rolle, ihre Rolle. Irgendwann aber bricht diese kleine phantastische Welt zusammen, ist als Theaterbühne nicht mehr gefragt. Hofzwerge kommen aus der Mode, der Raum, in dem Abweichung von der Norm erlaubt ist, schwindet.

Das Werk sei auch ein wenig ein Abschiedsroman, sagte Thierse. „Alle großen Romane sind Abschiedsromane.“ Mit Hettches „Pfaueninsel“ hätten wir ein Buch vor uns, das auf einfallsreiche, unterhaltsame Weise aktuelle Fragen behandele: von Idealvorstellung und Anderssein, von Modernisierung und Bewahrung, Stadt und Land, dem Aufeinanderprallen von Welten.

Fast am Ende ihres Lebens, als 60-Jährige, unternimmt Marie eine Reise nach Berlin, macht einen Schritt aus der Ruhe der Insel in die aufstrebende Metropole und Industriestadt, und erlebt ein „Feuerland“, mit hektischen Menschen, Dampflokomotiven, Eisenwalzwerken. Hettche trug diese Passage als zweiten Teil seiner Lesung vor.

Kunst und Literatur im Deutschen Bundestag

150 Zuhörer waren der Einladung des Kunstbeirates des Deutschen Bundestages in den Innenhof des Schadow-Hauses gefolgt. In dem vor zwei Jahren restaurierten Gebäude gibt der Deutsche Bundestag zeitgenössischer Kunst und Literatur Raum und fördert den Austausch zwischen Politik, Kultur und Öffentlichkeit. Das 1805 errichtete Haus ist benannt nach seinem Erbauer und Bewohner, dem Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764-1850). Neben den Ausstellungsflächen beherbergt es heute das Kunstreferat der Bundestagsverwaltung.

Die Lesung fand anlässlich der Ausstellung „Prinzessinnen“ mit Skulpturen von Johann Gottfried Schadow und Anna Franziska Schwarzbach statt. Mit den Prinzessinnen-Skulpturen von Schadow und den zeitgenössischen Skulpturen der Porträtbildhauerin Anna Franziska Schwarzbach – eine Skulpturengruppe, die sich mit dem Schicksal einer jüdischen Familie auseinandersetzt – kontrastiert die Ausstellung avantgardistische Ansätze von damals und  heute: die Schaffung realistischer und kleinwüchsiger Figuren statt idealisierter Plastiken.

Ausstellung im Schadow-Haus

Die Ausstellung im Seitenflügel des Schadow-Hauses, Schadowstraße 12-13 in Berlin-Mitte, ist bis Sonntag, 18. Oktober, jeweils dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr bei freiem Eintritt geöffnet.

Der 1964 geborene Autor Thomas Hettche lebt in Berlin und hat bereits mehrere Romane veröffentlicht. Die im Südwesten Berlins in der Havel gelegene, eineinhalb Kilometer lange und einen halben Kilometer breite Pfaueninsel gehört mittlerweile als Teil der Berlin-Potsdamer Schlösser- und Gärtenlandschaft zum Unesco-Welterbe. Noch heute wird sie bevölkert von eine Schar Pfauen, den Namensgebern der Insel. (ll/01.07.2015)