Der lange Schatten des NSU-Skandals
Um die politisch-moralische Aufarbeitung der dem sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) angelasteten Mordserie, um die Kritik am Versagen der Sicherheitsbehörden bei den zehn Erschießungen und vor allem um die aus diesem Skandal zu ziehenden Konsequenzen geht es bei einer Plenardebatte am Mittwoch, 5. November 2014. Am 4. November 2011 war das NSU-Trio aufgeflogen. Der dritte Jahrestag dieser Entdeckung ist Anlass für diese Diskussion, die um 15.35 Uhr beginnt und rund eine Stunde dauert.
Die Debatte wird live im Parlamentsfernsehen, im Internet auf www.bundestag.de und auf mobilen Endgeräten übertragen.
Vor drei Jahren wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach tot in einem Wohnwagen gefunden. Wie sich herausstellte, hatten die beiden Rechtsextremisten zusammen mit Beate Zschäpe, die sich derzeit in München vor Gericht verantworten muss, die NSU-Zelle gebildet. Dem NSU wird vorgeworfen, zwischen 2000 und 2007 neun türkisch- oder griechischstämmige Kleinunternehmer sowie eine Polizistin hingerichtet zu haben.
Schock über kollektiven Blackout
Zudem werden der Gruppe zwei Sprengstoffanschläge und ein gutes Dutzend Raubüberfälle zugerechnet. So beispiellos die Mordserie war, so beispiellos war das Versagen von Polizei und Geheimdienst bei der Aufklärung dieser Verbrechen: Jahrelang waren die 36 beteiligten Sicherheitsinstanzen nicht in der Lage, bei diesen Attentaten eine rechtsterroristische Spur zu entdecken. Die Schuppen fielen erst im Herbst 2011 von den Augen, als das Trio aufflog.
Der Schock über den kollektiven Blackout der Behörden führte in der zurückliegenden Legislaturperiode zur einstimmig beschlossenen Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der das Versagen von Polizei und Geheimdiensten durchleuchten sollte. Gemeinhin sind Untersuchungsausschüsse Kampfinstrumente der Opposition gegenüber der Regierung, doch angesichts der monströs anmutenden Anschlagsserie und des erschütternden Versagens der Sicherheitsinstanzen zogen dieses Mal alle Fraktionen an einem Strang.
Versandete Informationen und unbeachtete Spuren
Auch der Abschlussbericht des Gremiums (17/14600) wurde einstimmig verabschiedet. Auf 1.300 Seiten wird detailliert aufgelistet, dass Behörden-Kleinkriege, versandete Informationen und unbeachtete Spuren dazu führten, dass die Ermittler jahrelang im Dunkeln tappten. Die Parlamentarier fanden nicht einen Kardinalfehler, in dem allein das Fiasko wurzelt, aber viele Missgriffe und Pannen, deren Vermeiden die Chance auf eine Ergreifung der Täter erhöht hätte.
Heinz Fromm, der im Zuge der NSU-Affäre von seinem Amt als Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) zurücktrat, kritisierte vor dem Ausschuss „Borniertheit“ und „analytische Engführung“, man habe die rechtsextreme Ideologie nur unzureichend begriffen und sich das Entstehen kleiner Terrorzellen nicht vorstellen können.
Mangelnde Kooperation der Behörden
Beispielsweise entdeckte die Polizei Anfang 1998, als Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe abtauchten, in Jena Kontaktadressen von Rechtsextremisten. Hätte man diese Liste ausgewertet, was nicht geschah, wäre die Zelle wohl ins Netz der Fahnder gegangen - und zur Mordserie wäre es vermutlich nicht gekommen. Noch ein zweites Mal war man nah dran am NSU: Nach einem Nagelbombenanschlag in Köln 2004 hätte die Polizei nur in der Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamts nachschauen müssen, und Böhnhardt wie Mundlos wären ins Visier geraten - doch das unterblieb.
Im Bericht wimmelt es von Hinweisen auf die mangelnde Kooperation, ja das Gegeneinander von Behörden. In Brandenburg unterrichtete ein Spitzel den Verfassungsschutz über Versuche der untergetauchten Gruppe, an Waffen zu gelangen - doch die heiße Information erreichte die Thüringer Fahnder nicht. In diesem Bundesland lieferten sich Polizei und Geheimdienst einen regelrechten Kleinkrieg. In dem Bericht findet sich noch viel mehr Kritik, die das Versagen der Behörden beleuchtet.
Interkulturelle Kompetenz gefragt
Mittlerweile konzentriert sich die Diskussion auf die konkreten Konsequenzen aus den Vorschlägen, die der Ausschuss erarbeitet hat. Zu diesem Katalog gehört unter anderem etwa die Forderung nach einer besseren Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsinstanzen. In bedeutsamen länderübergreifenden Fällen müsse eine „zentrale ermittlungsführende Dienststelle“ geschaffen werden.
Erweitert werden sollen die Befugnisse des Generalbundesanwalts. Die Behörden benötigten mehr „interkulturelle Kompetenz“. Nötig sei eine bessere parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste. Für dringlich hielten es die Abgeordneten, den Einsatz von V-Leuten neu zu regeln. Im Umfeld des NSU waren zahlreiche Spitzel platziert, doch es gingen keine Hinweise auf diese Zelle ein.
Weitere Ungereimtheiten
Auch nach der Beendigung des NSU-Untersuchungsausschusses kommt immer noch Ungereimtes in dieser Affäre ans Tageslicht. So stieß jüngst das Parlamentarische Kontrollgremium, das die Nachrichtendienste überwachen soll, auf eine Daten-CD, die der V-Mann „Corelli“ dem BfV schon 2005 übergeben hatte und in der das Kürzel NSU auftauchte. Die Abgeordneten plädierten dafür, den ehemaligen Abgeordneten Jerzy Montag (Bündnis 90/Die Grünen) zu einem Sonderermittler zu ernennen, der diesen Fund näher untersuchen soll - und die Frage, ob in den Archiven des Verfassungsschutzes noch mehr Interessantes zum NSU-Skandal verborgen sein könnte.
Einstimmig bekundete der Bundestag am 20. Februar 2014 seinen Willen, die 50 Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zu der Mordserie umzusetzen. Auch die Regierung und die Länder sollen diesen Forderungskatalog „zügig und umfassend“ verwirklichen, wie es in dem von allen Fraktionen eingebrachten Antrag (18/558) heißt. Der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger bezeichnete die Plenardebatte als „guten Startschuss“ für den anstehenden Reformprozess, Dr. Eva Högl (SPD), sah ein „starkes Signal“. (kos/30.10.2014)