Inge Deutschkron: Tragt ihn mit Stolz, den gelben Stern
Die deutsch-israelische Schriftstellerin Inge Deutschkron, 1922 im brandenburgischen Finsterwalde geboren und in Berlin aufgewachsen, hat in einer bewegenden Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus das Schicksal ihrer Familie geschildert, beginnend mit der „Machtergreifung“ vom 30. Januar 1933 bis zur Bonner Republik der Adenauer-Jahre. „Zerrissenes Leben“, so überschrieb sie ihren Vortrag.
„Lass Dir nichts gefallen, wehr Dich“
Der zehnjährigen Tochter des Oberstudienrats Dr. Martin Deutschkron habe die Mutter damals gesagt, sie gehöre nun zu einer Minderheit: „Lass Dir nichts gefallen, wenn Dich jemand angreifen will. Wehr Dich!“ Dieser Satz der Mutter sollte ihr ganzes Lebens bestimmen, sagte Inge Deutschkron.
Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wird seit 1996 begangen. Damit wird zugleich an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 erinnert. Zur Gedenkstunde am Mittwoch, 30. Januar 2013, begrüßte Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert neben Inge Deutschkron auch Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesratspräsident Winfried Kretschmann.
„Kampf gegen die Nazis“
Ihre Eltern seien damals nicht untätig gewesen im „Kampf gegen die Nazis“, sagte Inge Deutschkron. Sie seien Sozialisten und kämpften für den Sieg des Sozialismus in Deutschland, habe ihr die Mutter beiläufig gesagt, denn „nur dann würde die Gleichberechtigung aller Menschen gewährleistet und eine weitere Judenfeindschaft ausgeschlossen sein“.
Der Vater war bereits 1933 aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem Staatsdienst entlassen worden. Martin Deutschkron war als Freiwilliger in den ersten Weltkrieg gezogen, hatte an der Schlacht von Verdun teilgenommen und war Träger des Eisernen Kreuzes. Getragen habe er es nie, sagte Inge Deutschkron.
„Eine diskriminierende Isolation“
Getragen hat er auch nicht den gelben Stern, den zu tragen die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde im September 1941 gezwungen wurden. „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Stern“, hätten Funktionäre der Jüdischen Gemeinde versucht, ihre Mitglieder zu ermutigen, sagte Inge Deutschkron. Ihr Vater hatte Deutschland 1939 verlassen und war nach England emigriert, Inge und ihre Mutter blieben zurück.
„Die Mehrheit der Deutschen, denen ich in den Straßen Berlin begegnete, guckte weg, wenn sie diesen ,Stern‘ an mir bemerkte oder guckte durch mich, die Gezeichnete, durch oder drehte sich weg.“ Es habe erfreuliche Erlebnisse gegeben, etwa wenn Unbekannte in der U-Bahn oder auf der Straße einen Apfel oder eine Fleischmarke in die Manteltasche steckten, aber auch solche, die „ihrem Abschaum für die Jüdin“ Ausdruck gegeben hätten: „Fraglos, der ,Stern‘ schuf eine diskriminierende Isolation für uns.“
„Eine Riege von Unmenschen“
Inge Deutschkron schilderte, wie sich die Lage der Juden in Berlin immer mehr verschlimmerte. Der Gang zum Friseur sei verboten worden, das Wäschewaschen in einem Salon, Seife durfte – wie Eier und Kuchen – nicht an Juden verkauft werden. Einkaufen sei nur von 16 bis 17 Uhr möglich gewesen, Kulturstätten Juden untersagt worden. Eine „Riege von Unmenschen“ im Reichsinnenministerium sei damit beschäftigt gewesen darüber nachzudenken, „wie man Leben zur Qual macht“.
Am 27. Februar 1943 schließlich habe die Regierung ihr Versprechen eines „judenfreien Berlins“ eingelöst, als die letzten Juden der „einstmals stolzen Jüdischen Gemeinde“ abgeholt wurden. Begonnen habe die Aktion bereits im Oktober 1941.
„Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich“
Die Gestapo habe die Organisation der Deportationen der Jüdischen Gemeinde überlassen, monatlich seien 1.000 oder 1.500 Berliner Juden „gen Osten“ gebracht worden – abhängig von den Kapazitäten der Deutschen Reichsbahn. Auf die persönliche Verriegelung der bis an den Rand mit Menschen gefüllten Waggons hätten die deutschen Beamten nicht verzichtet. „Zurück blieb die kleine Zahl derer, die ein Versteck gefunden hatten und in die Illegalität gingen, wie meine Mutter und ich“, sagte Inge Deutschkron.
Sie schilderte das Schuldgefühl, das sich angesichts der Deportationen bei ihr einstellte: „Mit welchem Recht, so fragte ich mich, verstecke ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los.“
„Diese Einladung kam nicht“
Inge und ihre Mutter überlebten und konnten 1946 den Vater in England besuchen, der vergebens auf Post aus Deutschland wartete, um wieder in den Schuldienst eintreten zu können. Inge Deutschkron selbst war nach zweieinhalbjährigem Verstecken in Berlin „bereit, mich einzusetzen für ein Deutschland der Freiheit und der Demokratie“. Den Beweis dafür habe sie im ersten Nachkriegsjahr in Berlin erbracht, als die Sowjets sich bemüht hätten, ihren Bereich über ganz Berlin auszudehnen.
Die Rednerin schilderte auch das Verhalten der Deutschen nach dem Krieg, ihre Aufforderungen zu vergessen und zu vergeben: „Die meisten, denen ich in der provisorischen Bundeshauptstadt Bonn begegnete, hatten sie einfach aus ihrem Gedächtnis gestrichen, die Verbrechen, für die der deutsche Staat eine eigene Mordmaschinerie hatte errichten lassen und sie es geschehen ließen.“
„Wäre das doch die Wahrheit gewesen“
Das deutsche Volk der Nachkriegsjahre sei von seinem ersten Kanzler beschützt worden, der im Parlament behauptet habe, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. „Ach, wäre das doch die Wahrheit gewesen!“
Für sie selbst sei die Konsequenz gewesen, die lückenlose Wahrheit aufzuschreiben, präzise und emotionslos, „so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte“. Wie besessen sei sie von der Idee gewesen, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe: „Dass Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen könnten – ganz gleich welcher Hautfarbe, welcher Religion, welcher politischen Einstellung, nicht hier und nicht anderswo.“
Gedenken an die Opfer
Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte zu Beginn auf das Datum der Gedenkstunde, den 30. Januar, hingewiesen und daran erinnert, dass vor genau 80 Jahren Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde: „Damit begann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte.“ Zwölf Jahre nur trennten dieses Datum von dem der Auschwitz-Befreiung – für Lammert eine „Ewigkeit des Grauens“.
„Wir gedenken heute aller Opfer der verbrecherischen Ideologie des Nationalsozialismus, aller Menschen, die um ihre materielle, seelische und physische Existenz gebracht und ihrer Würde beraubt wurden, der Verfolgten, Gemarterten, Gedemütigten, Ermordeten: Wir gedenken der europäischen Juden, Sinti und Roma, der zu ,Untermenschen‘ degradierten slawischen Völker, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, der Opfer staatlicher Euthanasie, der Homosexuellen, aller, die sich aus religiösen, politischen oder schlicht menschlichen Beweggründen dem Terror widersetzten und deswegen der totalitären Staatsgewalt zum Opfer fielen. Wir gedenken Millionen und Abermillionen Toten“, sagte Lammert. Gedacht werde aber auch an die Überlebenden, die „an dem Grauen der Unmenschlichkeit seelisch zerbrochen sind“, und an jene, deren Familien damals ausgelöscht wurden.
Gut sei es, dass die Gedenkstunde vom öffentlich-rechtlichen Sender Phoenix übertragen werde: „Noch besser wäre es, wenn ARD oder ZDF es wie wir wichtig genug fänden, dieses Gedenken und diesen gemeinsamen Willen aller Demokraten einer breiten Öffentlichkeit im Hauptprogramm öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten zu vermitteln“, sagte Lammert unter großem Beifall.
„Kein Betriebsunfall der Geschichte“
Lammert betonte, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten kein Betriebsunfall in der Geschichte, dass sie weder zufällig noch zwangsläufig war: „Die Selbstaufgabe der Weimarer Demokratie ist und bleibt Warnung und Verpflichtung an die Nachgeborenen.“
Das Wissen um die Vergangenheit sei eine verbindliche Verpflichtung für alle Demokraten, ihre Stimme gegen jegliche Ansätze und Formen von Ausgrenzung, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu erheben und danach zu handeln.
Größte Mordaktion des Zweiten Weltkriegs
Mit Blick auf die von einer fünftägigen Exkursion in die Ukraine zurückgekehrten 80 Teilnehmer der internationalen Jugendbegegnung des Bundestages sagte Lammert, die größte einzelne Mordaktion des Zweiten Weltkriegs in Babyn Jar bei Kiew sei zum Symbol des Völkermordes durch Gewehrkugeln geworden.
Am 29. und 30. September 1941 seien dort 33.771 ukrainische Juden erschossen worden. „Bis November 1943 wurden in dieser Schlucht weit mehr als hunderttausend Menschen ermordet, darunter Ukrainer, Russen, Weißrussen.“ In diesem Zusammenhang begrüßte er unter großem Beifall den französischen Priester Patrick Debois, der in den vergangenen zehn Jahren Hunderte Massengräber der Anonymität entrissen hatte.
Neues Entschädigungsabkommen
Die Verantwortung Deutschlands für diese Verbrechen drücke sich nicht zuletzt im neuen Entschädigungsabkommen aus, das die Bundesrepublik und die Jewish Claims Conference im November 2012 unterzeichnet hatten, „nachdem die Holocaust-Überlebenden aus Osteuropa so lange auf eine materielle Anerkennung ihrer Verfolgung und Leiden warten mussten“.
Inge Deutschkron als eine von etwa 1.700 geretteten Berliner Juden habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland lebendig zu halten und dabei auch jene Helferinnen und Helfer bekannt zu machen, die Zivilcourage gezeigt und Verfolgte gerettet hätten. Ihr großes Verdienst sei es, dass sie ihre Erlebnisse an junge Menschen weitergebe und ihnen am Beispiel der „stillen Helden“ zeige, dass es auch in den Zeiten des Terrors möglich war, Menschlichkeit zu beweisen: „Sie tragen dazu bei, eine Generation der Zeugen von Zeugen zu bilden.“
Synagogalmusik von Louis Lewandowski
Eingestimmt in die Gedenkstunde hatten Klänge der Synagogalmusik des preußisch-jüdischen Komponisten Louis Lewandowski (1821-1894). Dessen jüdisches Totengedenken Enosch K’chozir Jomow trug das Synagogal Ensemble Berlin der Synagoge Pestalozzistraße vor. Das traditionelle Gebet „El Male Rachamim“, in dem die Namen einiger Konzentrationslager zum Gedenken an die Holocaust-Opfer genannt werden, wurde durch den Kantor Isaac Sheffer vorgetragen. Abgeordnete und Gäste erhoben sich dazu von den Sitzen.
Den Abschluss bildete die Hymne „Adon Olam“ in der Vertonung des österreichisch-jüdischen Komponisten Salomon Sulzer (1804-1890). (vom/31.01.2013)