„Demokratie immer wieder mit Leben füllen“
Parlamentarische Demokratie ist nicht ersetzbar, aber zu ergänzen: Dieses diplomatische Fazit ist das Ergebnis einer Veranstaltung der Reihe „W-Forum“ der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum Thema „Braucht die Demokratie mehr Bürgerbeteiligung?“ Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest-dimap vom Juli 2010 haben mehr als 70 Prozent der Bürger mehr Bürgerbeteiligung bei politischen Entscheidungen gefordert, wie Prof. Dr. Ulrich Schöler, Leiter der Abteilung „Wissenschaft und Außenbeziehungen“ der Bundestagsverwaltung, eingangs betonte.
Wie das zu deuten ist, diskutierten der ehemalige Bundesminister Dr. Heiner Geißler (CDU), der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Merkel und die Bundesvorstandssprecherin von „Mehr Demokratie e.V.“, Claudine Nierth, am Donnerstag, 23. Juni 2011, im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages.
„Vertrauensverlust der Bevölkerung“
Heiner Geißler, der als Schlichter im Konflikt um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 vermittelt hatte, sprach von einem Vertrauensverlust der Bevölkerung gegenüber der Wirtschaft und der Politik. „Wenn die Politiker nicht darauf reagieren, dann nehmen wir die Sache selber in die Hand“, beschrieb er seine Deutung der Motive der „Wutbürger“. Und schob ein, dass sie „aber keine sind, denn sie sind nur wütend darüber, was passiert.“ Das sei ein Unterschied.
„Wenn Ratingagenturen fähig sind, Demokratien herunterzustufen, hat das politische Auswirkungen“, sagte Geißler mit Blick auf die Finanzkrise. „Die Menschen fragen sich, ob demokratisch gewählte Politiker in der Lage sind, sich gegen Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.“
„Die Transparenz fehlt“
„Niemand hat mehr Lust Großprojekte von Großkonzernen in seiner Umgebung zu akzeptieren, wenn er nicht weiß, wer davon profitiert.“ Die Transparenz fehle. Das Projekt Stuttgart 21 habe die Frage offengelassen, zu wessen Nutzen Steuergeld-Milliarden investiert werden sollen. „Damit sinkt das Vertrauen in die Parlamente“, attestierte Geißler.
Er forderte allumfassende Transparenz: Erstens müsse Parität zwischen Gegnern und Befürwortern von Entscheidungen hergestellt werden. Beide Gruppen müssten zweitens auf Augenhöhe miteinander verhandeln können, und drittens dürfe nichts hinter verschlossenen Türen beraten und beschlossen werden.
Auch Claudine Nierth nahm die „Wutbürger“ in Schutz, denn „wenn wir die Demokratie nicht weiterentwickeln, fängt sie an aufzuhören“. Demokratie müsse immer wieder mit Leben gefüllt werden. Dazu gehöre auch, die Entscheidungsprozesse in Frage zu stellen, denn davon hänge letzten Endes die Qualität der Entscheidung ab.
„Die Bürger wollen mitregieren“
Der „Wutbürger“ entstehe nur dann, wenn ein Entscheidungsprozess abgeschlossen worden ist, an denen Bürger nicht beteiligt worden sind. „Diese müssen aber am Ende die Suppe auslöffeln“, sagte sie. Nierth forderte eine Änderung der politischen Kultur und stellte die Frage in den Raum, dass Politiker in Zukunft ein neues Rollenverständnis einnehmen und sich selbst als Moderatoren sehen sollten.
Sie kritisierte, dass Deutschland das einzige Land in Europa sei, das keinen Volksentscheid auf Bundesebene zulasse. Der Bürger müsse mündig gemacht werden, sagte sie. Auf kommunaler Ebene seien schon Tausende Bürgerbegehren abgestimmt worden. „Das zeigt, dass die Bürger mitregieren wollen“, leitete Nierth daraus ab, „denn da, wo Beteiligungsrechte bestehen, beteiligen sich die Bürger gerne.“
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel äußerte die Befürchtung, dass paradoxerweise das Volk durch Volksentscheide entmachtet werden könnte. Die Qualität der Demokratie werde heutzutage schlechtgeredet. Referenden und Volksentscheide würden tendenziell ärmere Schichten, das untere Drittel der Gesellschaft, ausschließen.
„Volksentscheide selektieren“
„Die soziale Selektion ist weit höher als bei allgemeinen Wahlen“, sagte Merkel und unterstrich die Bedeutung der Volksparteien, die den Anspruch verträten, die Interessen aller Bürger zu artikulieren. Als Beispiel führte der Wissenschaftler die gescheiterte Bildungsreform in Hamburg an. Dort hatte die schwarz-grüne Koalition die Grundschulzeit von vier auf sechs Jahre verlängern wollen.
Das Scheitern der Reform zeigt für den Politikwissenschaftler, dass nur Gruppen politisch gehört werden, die „kampagnenfähig“ sind. Das seien jene, die politisch ohnehin schon sehr gut vertreten seien.
Heiner Geißler hielt dagegen, dass die Zeit vorbei sei, in der der Meinungsbildungsprozess allein über die Parteien läuft. „Nur weil die Armen vielleicht zahlreicher sind als die Reichen oder die Dummen als die Gescheiten ist das kein Argument gegen mehr Beteiligung“, konterte er. Dann müsse das eben geändert werden. Die Armen seien schließlich einer Politik ausgeliefert gewesen, gegen die sie sich nicht hätten wehren können: „Die Agenda 2010 hätte nie das Licht der Welt erlebt, wenn es eine umfangreiche Diskussion gegeben hätte“, sagte Geißler.
Beispiel Schulreform in Hamburg
Die Schulreform in Hamburg ist seiner Ansicht nach nur schiefgegangen, weil die CDU sich nicht an ihre Zusage gehalten habe, die sechsjährige Grundschulzeit nicht einzuführen.
Claudine Nieth ergänzte, dass in Hamburg in allen Stadtteilen die Mehrheit gegen die Bildungsreform gestimmt habe. Die direkte Demokratie habe in diesem Fall nicht das Volk entmachtet, sondern die Politik. In ihren Augen sind 40 Prozent abstimmende Bürger repräsentativer gewesen als der Hamburger Senat.
Wolfgang Merkel unterstrich seine Kritik: In Hamburg-Billbrook, einem Stadtteil mit hohem Anteil an Hartz-IV-Beziehern, hätten nur zehn Prozent der Abstimmungsberechigten ihr Votum abgegeben. „In Hamburg-Nienstädt, einem wohlhabenderen Stadtteil, nahmen hingegen 55 Prozent teil.“ So etwas grenze Menschen aus, sagte Merkel. (eis)