„Das Grundgesetz ist ein Exportschlager“
Der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Staatsrechtslehrer Prof. Dr. Rupert Scholz hat zum 62. Jubiläum des deutschen Grundgesetzes am 23. Mai dessen Erfolgsgeschichte gewürdigt. Es sei zum Exportschlager für die Bundesrepublik geworden, vor allem gegenüber Staaten mit einer Diktaturvergangenheit. „Gerade junge Demokratien, auch in Südamerika und teils in Asien, haben sich stark am deutschen Grundgesetz orientiert“, sagt Scholz, der dem Bundestag von 1990 bis 2002 angehörte, in einem am Montag, 30. Mai 2011, erschienenen Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Das Interview im Wortlaut:
Herr Professor Scholz, das Grundgesetz ist jetzt 62 Jahre alt. Für viele Länder, die aus der Diktatur kamen, wie Spanien oder Portugal beziehungsweise später Ungarn, Tschechien, Rumänien, die Slowakei oder Kroatien, ist es zum Vorbild geworden. Ist unser Grundgesetz ein Exportschlager?
Ja. Gerade junge Demokratien, auch in Südamerika und teils in Asien, haben sich stark am deutschen Grundgesetz orientiert. Es war vielerorts die Erkenntnis, dass hier ein Land, das aus einer schlimmen Diktatur kam, es schaffte, in einer ganz schwierigen Situation nach 1945 mit einer erstklassigen Verfassung zu einer stabilen Demokratie und einem stabilen Rechtsstaat zu werden. Ich habe das selbst in Verfassungsberatungen in Brasilien, Polen, Russland oder China erfahren.
Welche Teile des Grundgesetzes haben besonders häufig Vorbildcharakter?
Das beginnt mit den Grundrechten. Eine solch kompakte und rechtsschutzmäßig abgesicherte Grundrechtsordnung gibt es auf der Welt kaum ein zweites Mal. Aber auch die Werthaltigkeit gilt als Vorbild. Das wichtigste Beispiel ist die zentrale Norm unseres Grundgesetzes in Artikel 1 Absatz 1, wo die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird. Dieser Satz wurde wörtlich übernommen in der europäischen Grundrechtecharta.
Inwieweit lässt sich eine Verfassung überhaupt exportieren? Mit einer demokratischen Verfassung gibt es doch nicht unbedingt immer eine demokratische Entwicklung?
Nein. Der frühere Bundesverfassungsrichter Böckenförde hat einmal gesagt: Keine Verfassung kann ihre eigenen Voraussetzungen garantieren. Und eine demokratische Verfassung basiert ja nicht nur auf der Volkssouveränität der jeweiligen Nationen, sondern auch auf den eigenen historischen Entwicklungen. Insofern kann man eine Verfassung nicht so ohne Weiteres übertragen. Der Erfolg mit unseren Grundrechten ist das eine. Das andere ist der Rechtsstaat, der auch beispiellos auf dieser Welt ist. Das beginnt mit der unbedingten Garantie des Rechtsschutzes für den Bürger, wenn er in seinen Grundrechten betroffen ist. Es kulminiert im Bundesverfassungsgericht als unabhängigem Verfassungsorgan, das mit der Verfassungsbeschwerde für jeden Bürger erreichbar ist. Die Erfolgsgeschichte dieses Gerichts wurde weltweit aufmerksam beobachtet. Ich hatte einmal an einer Verfassungsberatung des chinesischen Rechtsausschusses des Volkskongresses in Peking teilgenommen. Das Hauptinteresse der Abgeordneten galt dem Bundesverfassungsgericht. Wenn China einmal eine wirkliche Demokratie hat, geht dies wesentlich nur über eine rechtsstaatliche Entwicklung.
Obwohl ja unser Bundesverfassungsgericht immer stärker als Ersatz-Gesetzgeber auftritt und viele Entscheidungen, so zu den Sicherheitsgesetzen, den handelnden Politikern zunehmend missfallen ...
Wir haben uns ein bisschen zum Justizstaat entwickelt. Einerseits schenken die Bürger unserem Bundesverfassungsgericht immer mehr Vertrauen, auch politisches Vertrauen, manchmal mehr als dem Gesetzgeber. Umgekehrt übernimmt die Gerichtsbarkeit, auch durch andere Bundesgerichte wie das Bundesarbeitsgericht, zunehmend eine ersatzgesetzgeberische Funktion. Das ist eine nicht unkritisch zu bewertende Entwicklung. Sie ändert aber nichts an der institutionellen Erfolgsgeschichte des Bundesverfassungsgerichts.
Was sagen Sie dazu, dass zwar laut Grundgesetz das Parlament Gesetzgeber ist, aber die Exekutive immer mehr Entscheidungen an sich reißt, so bei der Euro-Rettung und Europapolitik.
Der Primat des parlamentarischen Gesetzgebers ist bei uns eindeutig. Man könnte sogar sagen, dass sich unser Gesetzgeber zu viel mit Details der Exekutive befasst, was in Wahrheit das Parlament überfordert. Bei der europäischen Entwicklung haben wir eine Konstellation, die vom Grundgesetz so nicht vorhergesehen wurde. Die wichtigsten Entscheidungen in der EU fallen auf der Exekutivebene in der Europäischen Kommission und im Europäischem Rat, in dem die Bundesregierung sitzt. In Artikel 23 Grundgesetz ist festgelegt, dass die Bundesregierung die Mitwirkung des Parlaments bei ihren Entscheidungen im Europäischen Rat einholen und berücksichtigen muss. Der Rat besteht aber aus 27 Mitgliedern, auf Kommissionsebene ist es ähnlich. Da müssen Kompromisse gemacht werden. Die Europapolitik ist in diesem Sinne Außenpolitik. Aber sie ist auch Innenpolitik, weil 80 Prozent unserer nationalen Gesetzgebung von Brüssel beeinflusst werden. Diese Problematik könnte man nur auflösen, wenn wir in Europa ein wirkliches Parlament hätten mit 'One man, one vote' und einer demokratischen Öffentlichkeit und wirklich europäischen Parteien. Letztlich braucht man eine europäische Verfassung, aber die ist bekanntlich gescheitert.
Die bisherigen Beispiele für das Grundgesetz als Exportschlager betreffen unseren Kulturkreis. Ist es denkbar, dass unsere Verfassung auch zum Vorbild in reformierten islamischen Ländern wird?
Da habe ich Zweifel. Bei den Menschenrechten ist dies möglich und nötig. Auch die arabischen Staaten haben die UN-Charta ratifiziert und sich damit den allgemeinen Menschenrechten verpflichtet. Ich glaube aber nicht, dass sich das islamische Staatsverständnis wirklich zusammenführen lässt mit unserem westlich-abendländischen Verfassungsrecht. Der Islam ist im Grunde ein System des Gottesstaates. Das ist für uns bei der Trennung von Staat und Kirche ausgeschlossen.
Das Grundgesetz ist seit Inkrafttreten vor 62 Jahren schon rund 60 Mal geändert worden, die US-Verfassung nach über 220 Jahren nur 27 Mal. Spricht das nicht gegen das Grundgesetz?
Nein. Hier geht es um unterschiedliche Rechtstraditionen. Das angelsächsische Recht ist case law, Rechtsfindung durch Rechtsfälle. Deshalb haben die Engländer gar keine geschriebene Verfassung. Das kontinentaleuropäische Denken steht in der römischen Rechtstradition, das Kodifikationsrecht ist. Allerdings ist unser Grundgesetz aus meiner Sicht zu viel geändert worden, auch mit Änderungen, die viel zu detailliert sind, so bei der Finanzverfassung oder bei Grundrechten wie dem Asylrecht oder dem Recht auf Wohnung. Damit steigt die Gefahr, dass eine Verfassung buchstäblich veraltet. 1949 hatte man etwa trotz großer Nöte im Land bewusst darauf verzichtet, bestimmte sozialpolitische Detailaussagen in die Verfassung hineinzunehmen. Da zeigt sich die kluge Offenheit, die sich die Verfassung bewahrt hat.
Zum Abschluss: Halten Sie den Artikel 146 für überholt, wonach eines Tages eine Verfassung unser Grundgesetz ablösen soll?
Mit der Wiedervereinigung und dem Einigungsvertrag ist das Grundgesetz aus dem Stadium des Provisoriums herausgetreten. Es ist mit dem Beitritt der fünf neuen Länder zum Grundgesetz nach dem alten Artikel 23 endgültig gesamtdeutsche Verfassung geworden. Der alte Artikel 146 sagte, das Grundgesetz verliert seine Geltung, wenn sich das deutsche Volk mit der Einheit eine neue Verfassung gibt. Das war die andere Option. Gewählt wurde der Weg über Artikel 23, was politisch richtig war. Ich hatte damals die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat mit Herrn Voscherau geleitet. Der Artikel 146 blieb auf Wunsch der politischen Linken erhalten. Er ist aber eine politische Selbstverständlichkeit, denn jede Verfassung verliert ihre Gültigkeit, wenn eine neue kommt.