Grimms Plädoyer für „eingebaute Unterbrecher“
„Das Grundgesetz war schon mal besser, als es jetzt ist. Wir sollten sehen, es vor weiteren Verschlechterungen zu bewahren.“ Mit diesen Worten schloss Prof. Dr. Dieter Grimm, von 1987 bis 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht, seinen Vortrag zum Thema „Wie wir mit dem Werk des Parlamentarischen Rates umgehen - oder: Wie viele Änderungen verträgt das Grundgesetz?“ Anlass für die Rede Grimms am Montag, 22. Februar 2010, im Reichstagsgebäude war der Abschluss der 14-bändigen Edition „Der Parlamentarische Rat 1948-1949“. Die Edition, mit der im Jahr 1975 begonnen wurde, wird vom Deutschen Bundestag gemeinsam mit dem Bundesarchiv in Koblenz herausgegeben.
„Der bedeutendste Text dieses Landes“
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert bezeichnete das Grundgesetz, das der in den Jahren 1948 und 1949 in Bonn tagende Parlamentarische Rat nach 250 Tagen formuliert hatte, als „den mit Abstand bedeutendsten Text dieses Landes“. Auf 11.000 Druckseiten wird in der Edition die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes anhand von Akten und Protokollen nachgezeichnet. Das Ergebnis der Arbeit des Parlamentarischen Rates, das Grundgesetz, war nach den Worten Lammerts „knapp und präzise, was man nicht von allen Änderungen sagen kann“.
Das Grundgesetz galt bei seinem Inkrafttreten am 23. Mai 1949 keinesfalls als großer Wurf, wie Professor Grimm in Erinnerung rief: „Das Publikum nahm es teilnahmslos hin, die Experten fanden Gründe zur Kritik.“ Ende der sechziger Jahre habe man es für antiquiert und überholungsbedürftig gehalten. Den Umschwung in der Wertschätzung sieht Grimm im Begriff „Verfassungspatriotismus“ begründet, den der konservative Politikwissenschaftler Dolf Sternberger 1979 eingeführt und den der „linke“ Philosoph Jürgen Habermas acht Jahre später „popularisiert“ habe. Zum 40-jährigen Bestehen, kurz vor der Wiedervereinigung, habe die Wertschätzung ihren Höhepunkt erreicht.
57 Grundgesetzänderungen
Grimms Bilanz in Zahlen: Das Grundgesetz ist in 60 Jahren 57 Mal geändert worden. Es zählt immer noch, wie zu Beginn, 146 Artikel, ist aber inzwischen doppelt so lang wie zur Zeit seiner Entstehung. 83 Artikel sind unverändert geblieben, 63 sind - zum Teil mehrfach - geändert worden. Im Vergleich dazu ist die Weimarer Verfassung in 14 Jahren acht Mal geändert worden.
Grimm hielt sich mit einem Urteil darüber, ob 57 Änderungen „viel“ sind, zurück - „viel“ sei ein relativer Begriff. Eine Verfassung, die nie geändert wird - so wie bislang die etwa gleich alte japanische Verfassung - könnte den Schluss zulassen, dass sie als „irrelevant“ gilt. Die Erfahrungen der späten Kohl- und der Schröder-Regierung mit ihren Politikblockaden zeigten, dass „uns viel erspart geblieben wäre“, wenn die Verfassung rechtzeitig geändert worden wäre. Ob sich eine Verfassung bewähre, hänge von den Herausforderungen ab, die an sie herangetragen werden, sagte Grimm.
„Konsensbasis für politische Gegner“
Eine Verfassung ist nach Aussage des Professors ein „Ensemble von Rechtsnormen“, das Anforderungen stellt, die „erfüllbar und durchsetzbar“ sind. „Die Verfassung bringt legitime politische Herrschaft erst hervor und legt die Bedingungen fest, unter denen Herrschaft ausgeübt werden darf“, betonte der Staatsrechtslehrer. Grimm nannte die Verfassung eine „zivilisatorische Errungenschaft“, eine „Konsensbasis für politische Gegner“. Der „Vorrang der Verfassung“ sei von wenig praktischem Wert, wenn er nicht vom Verfassungsgericht durchgesetzt werden könne.
Die Verfassung regelt nach den Worten Grimms das Konkurrenzverhältnis politischer Gegner. Änderungen dürften deshalb nicht der jeweiligen Mehrheit anvertraut werden. In der Verfassung sollten keine Normen stehen, die außerhalb des „Vermögens von Recht“ stehen, die nicht die Einrichtung und Ausübung politischer Herrschaft betreffen und die die „Ebenendifferenzierung“ zwischen Verfassungsnormen und Gesetzen unterminieren, unterstrich Grimm.
„Nicht mit einem Grundbuch verwechseln“
Diese Ebenendifferenzierung sei etwa in den Artikeln 23, 72, 84 oder 106 missachtet worden, die immer differenzierter und detailreicher geworden seien. Der Artikel 16 zum Asylrecht sei seit seiner Änderung 1993 40 Mal so lang wie der Vorgängertext. Grimm warnte zudem vor der Gefahr, die Verfassung mit einem Grundbuch zu verwechseln, vor „Vollständigkeits- und Registrierungsidealen“ und davor, Partikularinteressen in den Rang eines „Staatsziels“ zu erheben.
Kritisch stellte der Redner fest, dass sich der Grundzug des Regimes von Verfassungsänderungen von der Gesetzgebung nicht signifikant - nur durch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit - unterscheide. In Deutschland bleibe dabei „die Politik unter sich“. „Es herrscht bei Verfassungsänderungen der Versuch vor, auf Verfassungsebene so viel wie möglich von der eigenen Position zu verfestigen und von der Position des Gegners zu schwächen“, sagte Grimm.
„Raum schaffen für andere Bedürfnisse“
Nach Einschätzung Grimms füllt sich das Grundgesetz mit Regelungen, die eigentlich der Mehrheitsentscheidung im Gesetzgebungsverfahren offenstehen sollten. Es fänden sich dort Regeln, „die man eher in einer Durchführungsverordnung finden würde“. Fazit: „Unser Verfassungsänderungsverfahren ist selber änderungsbedürftig.“ Die Zweidrittelmehrheit sei notwendig, aber sie allein reiche nicht aus. Grimm empfiehlt, „Raum zu schaffen für andere Bedürfnisse als die der Akteure des politischen Tagesgeschäfts“. Der „politische Raum“ dürfe nicht unter sich bleiben, es müsse „Anreize für Gemeinwohlerwägungen“ geben.
Der Verfassungsjurist regte ferner an, in das gegenwärtige Verfahren der Verfassungsänderung „Unterbrecher“ einzubauen, die die Politik zum „Blick nach außen“ zwingen, etwa indem man ein „Initiativrecht“ eröffnet, sodass nicht nur die Politik Änderungsbedarf auf die Tagesordnung setzen kann. Auch könnte die Beschlussfassung für ein Referendum geöffnet werden. Oder eine Verfassungsänderung sollte - nach portugiesischem Vorbild - nur zustandekommen, wenn sie vom nächsten Parlament bestätigt wird.
„Demokratisches Selbstverständnis vertiefen“
An Grimms Vortrag schloss sich eine Fragerunde aus dem Kreis der Zuhörer an, die Dr. Horst Risse, Leiter der Abteilung „Information und Dokumentation“ in der Verwaltung des Deutschen Bundestages moderierte. Die Vizepräsidentin des Bundesarchivs, Prof. Dr. Angelika Menne-Haritz, hatte eingangs die 35-jährige Arbeit an der Edition zum Parlamentarischen Rat dargestellt, jenes Gremiums von 65 Abgeordneten, die von den damaligen Landesparlamenten nach Bonn entstandt worden waren.
Ziel der Edition sei es, zur politischen Bildung und zur Vertiefung des demokratischen Selbstverständnisses der deutschen Staatsbürger beizutragen, sagte Menne-Haritz. Was ihr jetzt noch fehle, sei die Online-Verfügbarkeit. Die Edition ist im Münchner Oldenbourg Verlag erschienen, der durch die Geschäftsführerin Christine Autenrieth vertreten war.