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22. Februar 2018 Presse

§ 219a StGB: „Es braucht einen Paradigmenwechsel“ Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 26. Februar 2018) - bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung -

Die  Abgeordnete Ulle Schauws (Bündnis 90/Die Grünen) sieht in der Debatte um das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche die Politik in der Pflicht, Mediziner zu stärken, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. „Die Stimmung hat sich tatsächlich verändert, viele Ärztinnen und Ärzte werden angefeindet, sie stehen quasi unter Generalverdacht.“ Dieser Entwicklung müsse entgegengetreten werden, forderte die Sprecherin der Grünen-Fraktion für Frauenpolitik im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 26. Februar 2018). Dazu gehöre auch die Streichung des Paragrafen 219a Strafgesetzbuch (StGB). „Wenn der Paragraf schon die sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche nicht erlaubt und Anzeigen und Anklagen drohen, dann ist es für eine Arzt oder eine Ärztin nicht einfach, sich zu entscheiden, auch Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen“, sagte Schauws. Es brauche an dieser Stelle einen Paradigmenwechsel und eine klare Entscheidung der politischen Ebene.  

Mit der Streichung des Paragrafen 219a StGB wollen die Grünen laut Schauws Frauen den Zugang zu sachlichen und zeitgemäßen Informationen ermöglichen: „Es muss in einer emanzipierten Gesellschaft im Jahr 2018 möglich sein, sich bestmöglich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren.“ Werbung für Schwangerschaftsabbrüche solle weiterhin verboten bleiben, allerdings außerhalb des Strafgesetzbuches. „Für die Ärzteschaft ist das bereits über die Berufsordnungen geregelt, sollte darüber hinaus Sanktionierungsbedarf bestehen, lässt sich das über das Ordnungswidrigkeitengesetz oder über das Heilmittelwerbegesetz regeln“, sagte die 51-Jährige.

 

Das Interview im Wortlaut:

Der Bundestag debattiert über die Streichung des Paragrafen 219a StGB. Grund dafür ist die Verurteilung einer Ärztin, die von Abtreibungs-Gegner angezeigt wurde. Die Szene tritt in den vergangen Jahren verstärkt etwa beim „Marsch für das Leben“ in Erscheinung. Drohen uns in der eigentlich relativ befriedeten Debatte zu Schwangerschaftsabbrüchen bald amerikanische Verhältnisse?

Die Stimmung hat sich tatsächlich verändert, viele Ärztinnen und Ärzte werden angefeindet, sie stehen quasi unter Generalverdacht. Der Fall der Kristina Hänel ist sicherlich extrem und wird noch durch weitere Instanzen gehen, aber die Zahl der Anzeigen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Aus dem Umfeld der sogenannten Lebensschützer und des „Marsch für das Leben“ gibt es Attacken auf Ärztinnen und Ärzte sowie Beratungsorganisationen. Diese Gruppen nutzen die Rechtsunsicherheiten, die Paragraf 219a beinhaltet, und durchforsten systematisch das Internet, um gegen Medizinerinnen und Mediziner vorzugehen. Allein das Wort „Schwangerschaftsabbruch“ auf einer Internetseite kann zur Folge haben - und hat zur Folge -, dass es zu Anzeigen kommt. Die Stimmung gegenüber vielen Medizinerinnen und Mediziner, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, ist negativer geworden. Das ist ein Problem.

Kann die Politik da gegensteuern?

Wir müssen dieser Entwicklung entgegentreten und Ärztinnen und Ärzte stärken. Das ist unsere Verantwortung. Dazu gehört die Streichung des 219a. Es ist doch klar: Wenn der Paragraf schon die sachliche Information über Schwangerschaftsabbrüche nicht erlaubt und Anzeigen und Anklagen drohen, dann ist es für eine Arzt oder eine Ärztin nicht einfach, sich zu entscheiden, auch Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. An dieser Stelle brauchen wir einen Paradigmenwechsel und eine klare Entscheidung der politischen Ebene. Es muss in einer emanzipierten Gesellschaft im Jahr 2018 möglich sein, sich bestmöglich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren.

Die FDP will den 219a so ändern, dass nur „grob anstößige Werbung“ unter Strafe gestellt wird. Sie wollen hingegen den ganzen Paragrafen streichen. Warum?

Frauen muss ein Zugang zu sachlichen und zeitgemäßen Informationen über Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht werden, das ist unser Ziel. Es gibt verschiedene Ansätze, um das anzugehen. Wir haben das intensiv in unserer Fraktion – und mit den anderen Fraktionen - diskutiert. Wir wollen, dass Werbung weiterhin verboten bleibt, aber dafür braucht es nicht das Strafgesetzbuch. Für die Ärzteschaft ist das bereits über die Berufsordnungen geregelt, sollte darüber hinaus Sanktionierungsbedarf bestehen, lässt sich das über das Ordnungswidrigkeitengesetz oder über das Heilmittelwerbegesetz regeln.

Eine Mehrheit wird es wohl nur geben, wenn sich FDP, Grüne, SPD und Linke einigen. Könnten Sie auch mit einer anderen Lösung leben?

Wir sind offen und an einer Lösung interessiert, die sich breit im Parlament spiegelt. Jetzt wird es darum gehen, im parlamentarischen Verfahren in den Fachausschüssen die verschiedenen Ansätze zu diskutieren und möglicherweise einen gemeinsamen Ansatz zu finden. Von dem Vorschlag der FDP wäre es auch nur ein relativ kleiner Schritt hin zu einer Lösung außerhalb des Strafgesetzbuches.

Schwangerschaftsabbrüche sind laut Paragraf 218 StGB in Deutschland eine Straftat und bleiben nur in den Ausnahmefällen des 218a straffrei. Auch daran gibt es von feministischer Seite immer wieder Kritik. Ist diese Rechtslage veraltet und muss überdacht werden?

Wir wollen keine Debatte über den Paragraf 218 StGB aufmachen. Das ist eine ganz klare Entscheidung.

Warum nicht?

Dieser Paragraf wurde in den 1990ern sehr mühsam und sehr lange ausgehandelt. Damit können wir alle umgehen. Es ist ein Kompromiss, um einen Schwangerschaftsabbruch straffrei zu machen und auch Ärztinnen und Ärzten dies zu ermöglichen. Die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen machen eine hervorragende Arbeit. Das wollen wir beibehalten. Denn wenn die Debatte neu aufgemacht wird, könnte es auch zu Rückschritten kommen. Uns zeigt schon die Diskussion um den 219a, dass wir nicht davon ausgehen können, dass alles so bleibt, wie es ist. Rechte, die wir uns in dieser Gesellschaft auch für die Selbstbestimmung von Frauen oder für die Gleichberechtigung erkämpft haben, könnten auch zurückgedreht werden. Deswegen ist die Debatte um den 219a auch kein Randthema. Als Grüne sage ich ganz klar: Beim Selbstbestimmungsrecht der Frauen müssen wir sehr aufmerksam bleiben und haben noch viel zu tun.

Kürzlich sorgte ein Chefarzt in Niedersachsen für Aufsehen, der Schwangerschaftsabbrüche in einer Klinik untersagte. In der Debatte über diese Entscheidung wurde auch die Sorge geäußert, dass in manchen Regionen Deutschlands der Zugang zu solchen Angeboten nicht gegeben sei. Ist das eine berechtigte Sorge? 

In Deutschland haben Frauen tatsächlich nicht flächendeckend die Möglichkeit, Praxen oder Kliniken zu finden, in denen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. Dies wird im Rahmen der aktuellen Debatte sehr deutlich. Vor allem in ländlichen Regionen, etwa in Bayern oder Niedersachsen, liegen solche Kliniken teilweise bis zu über 100 Kilometer weit entfernt. Und das ist tatsächlich für die Versorgung von Frauen, gerade von Frauen, die nicht so bemittelt sind, um diese Distanzen hinter sich zu bringen, ein echtes Problem. Auch dabei geht es um den Zugang zu sachlichen Informationen, beispielweise darüber, wo die Betroffenen Unterstützung für die Kosten oder Anfahrt zu einer Praxis erhalten können. Genau diese Infos sollten Praxen beziehungsweise Klinken zur Verfügung stellen können.

In den vergangenen Jahren sank die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche – trotzdem liegt sie noch bei rund 100.000 im Jahr. Funktioniert die Sexualaufklärung in der Bundesrepublik nicht?

Aufklärung ist die halbe Miete, um ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt der Debatte – dem müssen wir uns noch intensiver widmen. Ich weiß von Beratungsstellen wie „Pro Familia“, die eng mit Schulen zusammenarbeiten, dass die Bildungsarbeit gut funktioniert. Junge Frauen und Männer sind meist gut aufgeklärt. Aber dieses Angebot gibt es eben noch nicht flächendeckend. Und es braucht eine regelmäßige Auffrischung.

Eng damit verbunden ist der Zugang zu Verhütungsmitteln. Sollten die Kassen generell die Kosten dafür übernehmen?

Frauen, die staatliche Transferleistungen erhalten, sollten die Kosten für Verhütungsmittel nicht selbst tragen müssen. Es sollte keine Frage des Einkommens sein, ob Verhütungsmittel finanzierbar sind.

Das Gespräch führten Friederike Beckh und Sören Christian Reimer.

Ulle Schauws ist Sprecherin für Frauenpolitik und Queerpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und stellvertretende Vorsitzende und Obfrau im Ausschuss Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die 51-Jährige sitzt seit 2013 im Bundestag.