Experten befürworten Mehrheitsentscheide in GASP
Berlin: (hib/JOH) Zahlreiche Experten befürworten die von der EU-Kommission vorgeschlagene Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union. Die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in der GASP würde die Handlungsfähigkeit der EU insbesondere bei Menschenrechtsfragen und Sanktionen stärken und ihr weltpolitisches Gewicht erhöhen, urteilten sie am Mittwoch in einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses. Die Sachverständigen verwiesen dabei auf die im Vertrag von Lissabon verankerte Passerelle-Klausel, die nach einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates Mehrheitsentscheidungen in einzelnen Feldern der GASP zulässt. In Deutschland ist dafür außerdem die Zustimmung des Bundestages erforderlich.
Einig waren sich die meisten Experten auch in ihrem Urteil, dass ein schneller Übergang zu Mehrheitsentscheidungen kaum realistisch ist, da insbesondere kleine Mitgliedstaaten große Vorbehalte gegen diesen Schritt hätten. Der Weg stehe daher einer „Avantgarde“ offen, befand unter anderem Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Ihr zufolge falle die Handlungsfähigkeit der GASP trotz der sich dramatisch verschlechternden weltpolitischen Lage nach wie vor weit hinter der Größe und Schlagkraft des Binnenmarktes zurück. Hierfür sei jedoch nicht nur das Einstimmigkeitsprinzip verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass die Beschlüsse des Rates für Auswärtige Angelegenheiten lediglich eine politische, jedoch keine rechtliche Bindungskraft hätten. „Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte all ihr politisches Kapital in die Hand nehmen, um die Vergemeinschaftung dieses Politikbereichs endlich anzugehen“, forderte Bendiek.
„Mehrheitsentscheidungen allein sind keine Wunderwaffe“, sagte auch Sophia Besch vom Centre for European Reform. Der Schritt könne die Handlungsfähigkeit der EU in der Außenpolitik erhöhen, doch sei ein rein institutioneller Lösungsansatz nicht ausreichend. So sollten größere Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich auch in anderen Politikbereichen mehr investieren und das eigene Engagement für eine gemeinsame EU-Außenpolitik über das Angebot demonstrieren, in außenpolitischen Entscheidungen freiwillig auf ihr Veto zu verzichten.
Mitgliedstaaten hätten immer wieder im Alleingang EU-Entscheidungen in Bezug auf Menschenrechte, EU-Sanktionen oder Schlüsselregionen von EU-Interesse blockiert, erklärte Christian Calliess von der Freien Universität Berlin. Dies müsse sich ändern, wenn die EU auf der Weltbühne gehört werden wolle. Vertragsänderungen seien dafür nicht notwendig, die Passerelle-Klausel biete bereits die „großartige Chance“, das unausgeschöpfte Potenzial der Verträge zu nutzen. Dies gelte allerdings nicht für Entscheidungen über zivile oder militärische Missionen der EU, die von der Klausel ausgenommen seien, stellte Callies klar.
Frank Hoffmeister vom Institut für Europastudien (IES) an der Freien Universität Brüssel plädierte indes für eine Vertragsänderung, um qualifizierte Mehrheitsentscheidungen als Regelfall einzuführen. Er verwies auf die Eilbedürftigkeit von EU-Positionen, die Kosten der Nichteinigung und Spaltungsversuche von Drittstaaten. „Wir können es uns nicht mehr erlauben, dass Europa auf der Weltbühne so abseits steht wie bisher“, warnte er. Außerdem habe die EU in der Handels- und Entwicklungspolitik bereits gute Erfahrungen mit Mehrheitsentscheiden gemacht.
Nach Ansicht von Jana Puglierin vom European Council on Foreign Relations (ECFR) ist „jede getroffene Entscheidung einer Handlungsunfähigkeit vorzuziehen“. Es bestehe außerdem immer die Möglichkeit für einzelne Mitgliedstaaten, die „Notbremse“ zu aktivieren, also laut Artikel 31 Absatz 2 des EU-Vertrages „aus wesentlichen Gründen der nationalen Politik“ eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit abzulehnen. Sie riet aber auch dazu, das Misstrauen der kleineren Mitgliedstaaten ernst nehmen und deren Interessen bei der Konsensbildung berücksichtigen. Außerdem sollte die EU keine Mehrheitsentscheidungen anwenden im Falle von massiven inhaltliche Differenzen innerhalb der EU. Dies könne die Spaltung in der EU vertiefen und mehr Schaden als Nutzen erzeugen, warnte sie mit Verweis auf die Entscheidung der EU im Jahr 2015, gegen den Widerstand von vier EU-Staaten ein Quotensystem für die Verteilung von Flüchtlingen einzuführen.
Auch Peter-Tobias Stoll von der Georg-August-Universität Göttingen betonte, die EU müsse die kleineren Mitgliedstaaten mitnehmen und eine „neue Kompromisskultur“ fördern.
Kritisch zu den Plänen äußerten sich Karl Albrecht Schachtschneider, Emeritus der Universität Erlangen-Nürnberg, und Jürgen Wagner von der Informationsstelle Militarisierung. Schachtschneider sagte, die Zweckmäßigkeiten rechtfertigten es nicht, die Souveränität einzelner Mitgliedstaaten auf die EU zu übertragen. Die EU sei im Wesentlichen eine wirtschaftliche Einheit, „aber kein Staat“. Daher könne das Volk auf sein Vetorecht gegenüber einer Unionsmaßnahme, „sofern diese nicht im engen Sinne vertraglich determinierte Ausführung gemeinschaftlicher Politik ist“, nicht verzichten. Wagner warnte vor einer expliziten Machtverschiebung hin zu den EU-Großmächten und einer Verstärkung des bereits vorhandenen Demokratiedefizits.