Ex-Aufseherin: Mangelnde Überwachung bei Wirecard
Berlin: (hib/FMK) Während der ehemalige Wirecard-Vorstandsvorsitzende Markus Braun nur gemauert hat, verlief die weitere Befragung der Zeugen vor dem 3. Untersuchungsausschuss am 19. November 2020 produktiver und aufschlussreicher. Unter Leitung des Abgeordneten Hans Michelbach (CSU) befragten die Ausschussmitglieder in der zweiten Hälfte der Sitzung ein ehemaliges Aufsichtsratsmitglied und zwei ehemalige Manager des Unternehmens.
Die Wirecard AG ist heute insolvent, ihre einstige Führung sitzt im Gefängnis, ist geflohen oder ist zumindest Gegenstand von Ermittlungen. Die Vorwürfe lauten Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Betrug. In den Bilanzen des Unternehmens klafft eine Lücke in der Größenordnung von drei Milliarden Euro. Der Skandal hat jedoch nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine politische Ebene: Aufsichtsinstitutionen wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), die Geldwäscheüberwachung, aber auch die Wirtschaftsprüfer haben jahrelang das Ausmaß der Täuschung nicht begriffen. Diesen Aspekt will der Ausschuss aufarbeiten.
Die Unternehmensberaterin Tina Kleingarn war geladen, weil sie in den Jahren 2016 und 2017 im Aufsichtsrat von Wirecard saß, diesen aber aus Protest über die intransparente Firmenkultur wieder verlassen hatte. Damals schrieb sie dem verbleibenden Aufsichtsrat einen Brief, in dem sie ihren Rücktritt begründete. Dieses Schreiben legte sie den Abgeordneten am Donnerstag als Grundlage für ihre Befragung vor.
Kleingarn sagte aus, sie habe damals Zweifel an den Abläufen bei Wirecard gehabt, ohne jedoch das Ausmaß des Betrugs auch nur annähernd zu durchschauen. Sie habe beispielsweise kein gutes Gefühl dabei gehabt, als Braun neue Vorstandsmitglieder ins Unternehmen geholt hat, ohne den Aufsichtsrat wirksam an der Entscheidung über die Spitzenpersonalie zu beteiligen. „Am Ende war es eine Anhäufung von Auffälligkeiten, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat“, sagt Kleingarn. Daher sei sie von ihrem Aufsichtsratsposten zurückgetreten.
Es habe von Anfang an eine erhebliche Diskrepanz zwischen ihren Vorstellungen von guter Unternehmensführung und der Realität bei Wirecard gegeben, sagte Kleingarn vor dem Ausschuss. Der Vorstand habe sich gegen eine effektive Überwachung gewehrt, wodurch immer größere Risiken entstanden seien. Der Vorstand habe dem Aufsichtsrat in vielen Fällen nicht die nötigen Informationen zur Bewertung der Lage des Unternehmens vorgelegt. Der Abgeordnete Fritz Güntzler (CDU) wies bei seiner Befragung auf die Relevanz dieser Aussage für die politische Aufarbeitung hin: „Als Gesetzgeber liegt es an uns, an Reformen des Rahmens für die Corporate Governance zu arbeiten.“
Kleingarn erklärte bei ihrer Aussage auch, warum Aufseher und Anleger sich trotz aller Verdachtsmomente immer wieder haben täuschen lassen: „Wir haben dem Testat vertraut.“ Damit bezieht sie sich auf den jährlichen Bericht der Wirtschaftsprüfer, in diesem Fall der international tätigen Firma EY. Diese hatte dem Unternehmen jahrelang eine saubere Bilanz bescheinigt. Dabei hatte es erfundene Riesengewinne ausgewiesen, während es in Wirklichkeit Verlust gemacht hat.
Auch das Charisma von Ex-Chef nennt Kleingarn als Faktor für das Debakel. Dessen Präsentationen seien überzeugend gewesen, sie sei von seinen Visionen beeindruckt gewesen. Zu keiner Zeit habe sie in ihrer anderthalbjährigen Aufsichtsratstätigkeit daran gezweifelt, dass das Wachstum und die Gewinne des Unternehmens grundsätzlich echt seien. „Ich habe auch dem Vorstand vertraut.“ Wenn die Vorwürfe, die heute gegen Wirecard erhoben werden, stimmten, dann fühle sie sich „belogen und betrogen“.
Als weiterer Zeuge war Stephan Freiherr von Erffa per Video zugeschaltet, der als Manager bei Wirecard gearbeitet hat. Er meldete wie Braun an, vorerst von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen zu wollen. Anders als Braun stellte er jedoch einen klaren Termin für seine weitere Befragung in Aussicht: Nach seiner Befragung durch die Staatsanwaltschaft stehe er Anfang kommenden Jahres zur Verfügung. Darauf ließ sich der Ausschuss grundsätzlich ein. Der Abgeordnete Florian Tocar (FDP) betonte jedoch, dass das Aussageverweigerungsrecht für viele Bereiche nicht gelte. Wenn Anfang des Jahres eine substanzielle Aussage zu erwarten sei, könne der Ausschuss aber so lange warten. Michelbacher ermahnte ihn, der Ausschuss werde keine Wiederholung der Verweigerungstaktik akzeptieren, die er von Ex-Chef Braun erlebt habe.
Der vierte Zeuge des Tages war Oliver Bellenhaus, der vor dem Zusammenbruch des Firmenkonstrukts eine Tochtergesellschaft für Kartenzahlungen im Nahen Osten geleitet hat. Es handelte sich dabei um eine im Rückblick besonders berüchtigte Geldmaschine des Konzerns. Bellenhaus kann nach Vermutung der Staatsanwaltschaft besonders gut über die Bilanzpraktiken von Wirecard Auskunft geben; er war aus dem Gefängnis zugeschaltet. Auch Bellenhaus reizte jedoch sein Recht zur Aussageverweigerung maximal - aus Sicht des Ausschusses: übertrieben weit - aus und beantwortete bei dieser Sitzung keine Fragen. Immerhin gab Bellenhaus zu: „Die Angelegenheit ist ein Riesendesaster, das sich durch nichts beschönigen lässt.“ Er entschuldige sich bei den Geschädigten.