Expertenstreit um Wahlrechtsreform
Berlin: (hib/HAU) Der von FDP-, Grünen- und Linksfraktion vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (19/14672) stößt bei Experten auf unterschiedliche Reaktionen. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Innenausschusses am Montag deutlich. Ziel des Entwurfes ist es, den Bundestag bei künftigen Wahlen zu verkleinern. Vorgesehen ist, das System der personalisierten Verhältniswahl beizubehalten, aber die Zahl der sogenannten Überhangmandate „und somit auch die Zahl der durch sie erforderlich werdenden Ausgleichsmandate“ deutlich zu reduzieren. Dazu soll das Verhältnis von Listen- und Direktmandaten nach dem Willen der drei Fraktionen zugunsten der Listenmandate auf etwa 60 zu 40 verändert werden. Außerdem soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert, die Gesamtsitzzahl dagegen von 598 auf 630 erhöht werden. Zudem soll dem Gesetzentwurf zufolge „eine Vorabverteilung von Sitzen auf die Parteien in den Ländern“ entfallen, da auch dieses sogenannte Sitzkontingentverfahren „zu unnötigem Ausgleichbedarf für andere Parteien“ führe.
Professor Joachim Behnke von der Zeppelin Universität Friedrichshafen sieht in Sachen Wahlrechtsreform „dringenden Handlungsbedarf“. Aus seiner Sicht ist die von den drei Oppositionsfraktionen geplante Abschaffung der Bildung von Ländersitzkontingenten auf Basis der Bevölkerungszahlen „unbedingt zu begrüßen“. Gleiches gelte für die Reduktion der Anzahl der Wahlkreise, die laut Behnke - bei Beibehaltung des personifizierten Verhältniswahlrechts - das effektivste und minimalinvasivste Mittel darstellt, um eine Vergrößerung des Bundestags abzudämpfen oder zu vermeiden.
Nach Auffassung von Ridvan Ciftci von der Universität Bielefeld ist die „maßvolle Erhöhung“ der Sollsitzzahl von 598 auf 630 unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unproblematisch. Die Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise, die unumgänglich zu deren Vergrößerung in der Fläche und zu einer höheren Bevölkerungszahl pro Wahlkreis führe, ist laut Ciftci in der durch den Gesetzentwurf geplanten Form ebenfalls verfassungsrechtlich unproblematisch. Anders verhalte es sich mit der Möglichkeit der Schaffung einer internen Listenverrechnung über Ländergrenzen hinweg. Das Bundesstaatsprinzip des Grundgesetzes verlange schließlich eine angemessene Vertretung der einzelnen Länder im Bundestag, sagte er.
Professor Michael Elicker von der Universität des Saarlandes hält hingegen die Abschaffung des Sitzkontingentverfahrens für einen „Schritt in die richtige Richtung“. Denkbar sei aber auch, auf die „Föderalisierung des Bundestagswahlrechts“ insgesamt zu verzichten, zu Gunsten eines unitarischen Wahlgebietes. Die Parteien, so Elicker, könnten ihre Kandidaten auf eine Bundesliste bringen. Eine Segmentierung des Wahlgebietes in Landeslisten sei möglich, „aber nicht verfassungsrechtlich geboten“. Skeptisch bewertete er das Vorhaben, die Anzahl der Wahlkreise auf 250 abzusenken. Überhangmandate gebe es dann immer noch, sagte Elicker. Im Übrigen glaube er nicht, dass eine solche Reduzierung noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl möglich sei.
Professor Bernd Grzeszick von der Universität Heidelberg hält den Gesetzesentwurf für problematisch. „Zugunsten des nicht durchweg überzeugenden Zieles der Begrenzung auf 630 Abgeordnete wird durch den Wegfall des Sitzkontingentverfahrens die föderale Gliederung des parteipolitischen Systems vernachlässigt“, befand er. Darüber hinaus begünstige die erhebliche Reduktion der Anzahl der Wahlkreise Bürgerferne, Schwächung der Kommunikation und geringe Responsivität des Parlaments und führe zu einer Steigerung des Einflusses der Parteien. Grzeszick hält zudem die in der Begründung zu dem Gesetzentwurf zu findende Aussage, dass unausgeglichene Überhangmandate nicht akzeptabel seien, für nicht nachvollziehbar.
Auch Professor Heinrich Lang von der Universität Greifswald sah das so und verwies auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate hinnehmbar seien. Lang warnte wie sein Vorredner von einer Absenkung der Anzahl und der damit verbundenen Vergrößerung der Wahlkreise. Nicht akzeptabel sei zudem eine Kappung der Direktmandate auf den Wert, der durch die Zweitstimmen gedeckt ist. Mit Blick auf die Zahl der Sitze im Bundestag sagte er, dass nirgendwo eine Obergrenze vorgegeben sei. Diese sei allenfalls erreicht, wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments in Frage gestellt sei. „Das ist sie bei weitem nicht“, sagte Lang und befand, dass ein Parlament mit 800 Abgeordneten durchaus auch Vorteile mit sich bringen könne.
Anders lautete die Bewertung von Professor Christoph Schönberger. Kein demokratisches Parlament der Welt habe mehr Abgeordnete als der Deutsche Bundestag, was ein deutliches Indiz dafür sei, „dass wir nicht noch viel weiter nach oben gehen sollten“, sagte er. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorrednern hält Schönberger eine Kappung bei den Direktmandaten unter gewissen Umständen für „mit dem Grundgesetz vereinbar“. Nicht akzeptabel sei es hingegen, die zum Ausgleich eingesetzten Listenmandate zu begrenzen. Dadurch entstünden unausgeglichene Überhangmandate in nicht vorhersehbarer Zahl, was die proportionale Verteilung der Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis der Parteien in einer Weise verzerrt, „die den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl in Frage stellen würde“, befand Schönberger.
Robert Vehrkamp, Politikforscher bei der Bertelsmann Stiftung, verwies auf Simulationsrechnungen auf der Basis von 1.036 umfragebasierten Wahlergebnisvarianten der letzten zehn Jahre, wonach der Gesetzentwurf in 927 von 1.036 Fällen (90 Prozent) eine Regelgröße von 630 erreicht. Im Vergleich dazu, so Vehrkamp, erreiche das geltende Bundestagswahlrecht in keinem der 1.036 Fälle seine Regelgröße von 598 und führe in 537 Fällen(52 Prozent) zu mehr als 650, und davon in 252 Fällen (24 Prozent) zu mehr als 700 Mandaten. „Die Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfes ist der geltenden Rechtslage deshalb eindeutig vorzuziehen“, urteilte er. Zur Ergänzung des Vorschlags um eine garantierte Obergrenze biete sich als zusätzliches Instrument die Einführung einer Kappungsgrenze an, sagte Vehrkamp. Abzulehnen sei hingegen „die mit großer Wahrscheinlichkeit verfassungswidrige vorsätzliche Wiedereinführung unausgeglichener Überhangmandate“.