„Falsche Einschätzungen“ im Berliner LKA
Berlin: (hib/WID) Das Berliner Landeskriminalamt hat sich im Umgang mit dem späteren Attentäter Anis Amri von falschen Einschätzungen leiten lassen. Dies räumte die damalige Abteilungsleiterin des Polizeilichen Staatsschutzes (LKA5), Jutta Porzucek, am Donnerstag vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) ein: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass der spätere Täter nicht die Gefährlichkeit aufwies, die er dann unter Beweis gestellt hat.“ Sie selbst sei mit operativen Entscheidungen allerdings zu keinem Zeitpunkt befasst gewesen, betonte die heute 58-jährige Zeugin, die seit einem Jahr im Rang einer Polizeidirektorin beim Polizeipräsidenten für die Sicherheit im Berliner Norden zuständig ist.
Auch den Namen Anis Amri, sagte Porzucek, habe sie erst nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 bewusst zur Kenntnis genommen. Es könne sein, dass der Mann bereits vorher in einer Besprechung in ihrer Gegenwart erwähnt worden sei: „Ich habe den nicht abgespeichert.“ Sie sei als Abteilungsleiterin über Details des Ermittlungsgeschäfts nur soweit informiert worden „wie notwendig“. Darüber zu entscheiden, habe den ihr untergebenen Dezernaten oblegen, die die Zeugin als „sehr autark, sehr kompetent und fachverantwortlich“ beschrieb.
Sie habe in ihrer Abteilung über „total kompetente Führungskräfte“ verfügt, die durchaus in der Lage gewesen seien, eigenständig zu beurteilen, was die Chefin erfahren musste. Im Fall Amri sei dies im Laufe des Jahres 2016 kein einziges Mal für notwendig erachtet worden. Ihr sei auch nicht zur Kenntnis gelangt, was im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden über Amri besprochen wurde. Dies habe ohnehin nicht zu ihren „standardmäßigen Aufgaben“ gehört: „Es hätte eine Rücksprache mit mir gegeben, wenn die Einschätzung der Mitarbeiter so gewesen wäre, dass ich das als Dienststellenleiterin wissen musste.“ Dass das Berliner LKA im GTAZ in der Regel durch subalternes Personal vertreten war, sei ihr damals „als problembehaftet nicht aufgefallen“.
Aus heutiger Sicht sei klar, dass ihre Behörde sich im Umgang mit Amri falsch verhalten habe, sagte die Zeugin: „Ich glaube nur, dass es nach damaligem Wissensstand durchaus Erklärungen gegeben haben kann, zu einer solchen fehlerhaften Einschätzung zu kommen.“ Amri sei einer von „sehr vielen Gefährdern“ gewesen, deren Zahl die Zeugin „im mittleren zweistelligen Bereich“ verortete: „Wir haben andere Personen gehabt, die uns zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr Gefährlichkeit entgegengebracht haben.“ Auf Nachfrage konnte sich die Zeugin allerdings an keinen einzigen Namen aus dem Kreis der damaligen Gefährder erinnern: „Ich bin seit über einem Jahr raus aus dem Staatsschutz, insofern brauche ich die heute nicht mehr zu kennen. Ich brauchte mir die Namen nicht zu merken.“
Dass Amri im Sommer 2016 nur an zwanzig Tagen in sehr eingeschränktem Maße observiert wurde, habe mit Sicherheit nichts mit Personalmangel zu tun gehabt, betonte die Zeugin. Sie wäre sonst darüber informiert worden und hätte für Abhilfe gesorgt. Vielmehr sei der „Mehrwert“ einer weiteren und intensiveren Observation wohl nicht gesehen worden. Dass Amri im Laufe des Jahres 2016 ständig als Nummer Eins unter den islamistischen Gefährdern in Berlin gegolten habe, schloss die Zeugin aus. Warum? „Weil er dann observiert worden wäre - wir sind Fachleute.“