Debatte über Marrakesch-Richtlinie
Berlin: (hib/mwo) Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung eines verbesserten Zugangs zu urheberrechtlich geschützten Werken für Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung (19/3071) war Thema einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz am Montag. Begrüßt durch den Ausschussvorsitzenden Stephan Brandner (AfD), beurteilten acht Experten und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, den Gesetzentwurf, mit dem die sogenannte Marrakesch-Richtlinie umgesetzt werden soll. Kritik gab es vor allem an den im Entwurf vorgesehenen Vergütungs- und Verwaltungsregelungen, die die finanziellen und personellen Möglichkeiten von Blindenbibliotheken sprengen würden. Darauf bezogen sich auch die Fragen der Abgeordneten aller Fraktionen.
Mit dem Gesetz sollen blinde, sehbehinderte oder anderweitig lesebehindertere Menschen ohne Erlaubnis des Urhebers barrierefreie Kopien von Werken zum eigenen Gebrauch herstellen oder von einer Hilfsperson herstellen lassen dürfen. Außerdem sollen Blindenbibliotheken und andere befugte Stellen barrierefreie Kopien herstellen dürfen und sie Blinden, Sehbehinderten oder anderweitig Lesebehinderten zur Verfügung stellen oder mit anderen befugten Stellen austauschen dürfen. Nutzungen seien angemessen zu vergüten. Der Vertrag von Marrakesch regelt die entsprechenden Voraussetzungen auf internationaler Ebene.
Mit dem Entwurf werde die Marrakesch-Richtlinie „nur unzureichend“ umgesetzt, sagte der Behindertenbeauftragte Dusel. Im Ergebnis gebe es keine deutliche Verbesserung der bisherigen Situation, sondern eine stärkere finanzielle und administrative Belastung der Blindenbibliotheken. Er werbe dafür, den Entwurf im parlamentarischen Verfahren noch einmal kritisch zu überprüfen, die Vergütungspflicht zu streichen und die Bibliotheken finanziell besser auszustatten. Dies forderten auch die Sachverständigen der Blinden- und Sehbehindertengremien. Der vorgelegte Entwurf werde dem Anliegen des Vertrags von Marrakesch, den Mangel an barrierefreier Literatur für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen weltweit zu beseitigen, nicht gerecht, hieß es übereinstimmend.
Thomas Kalisch, Direktor der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB) und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verbandes (DBSV), erklärte, der Gesetzgeber müsse durch Regelungen im Urheberrecht als auch durch die Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen sicherstellen, dass die umsetzenden Einrichtungen in die Lage versetzt werden, das Angebot an barrierefreien Werken massiv auszubauen. Christiane Möller, Rechtsreferentin des Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverbands, wies darauf hin, dass Blinden, sehbehinderten und anderweitig lesebehinderten Menschen bislang nur fünf Prozent aller veröffentlichten Werke in einem barrierefrei zugänglichen Format zur Verfügung stehen. Daher bestehe dringender Handlungsbedarf.
Andrea Katemann von der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista), Leiterin der Deutschen Blinden-Bibliothek, kritisierte, dass die schwierige finanzielle und personelle Situation der befugten Stellen in dem Entwurf keine Berücksichtigung finde. Zudem müsse die Literaturversorgung blinder, seh- und lesebehinderter Menschen gesetzlich und nicht in einer Verordnung geregelt werden, sagte sie unter Bezug auf den Entwurf einer Verordnung über befugte Stellen nach dem Urheberrechtsgesetz, der ebenfalls zur Debatte stand. Diese Verordnung sollte gestrichen werden. Lea Beckmann von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte bemängelte, dass die Bundesregierung trotz massiver öffentlicher Kritik in ihrem Gesetzentwurf an der Vergütungspflicht festhalte. Es bestehe das Risiko, dass die Vergütung sowie der mit ihr einhergehende Verwaltungsaufwand den befugten Stellen die kostenaufwändige Übertragung von Werken in zugängliche Formate weiter erschwert.
Professor Gerhard Pfennig, Sprecher der Initiative Urheberrecht, erklärte, die Initiative und die von ihren Organisationen vertretenen Urheber und Künstler unterstützten das Anliegen des Entwurfes, den sie für gelungen und damit zweckdienlich hielten. Dies dürfe aber nicht dazu führen, dass die Behinderten selbst für die Vergütung aufkommen müssen, sondern dass den befugten Stellen die erforderlichen Mittel für aus den öffentlichen Haushalten zur Verfügung gestellt werden. Die durch die Marrakesch-Vereinbarung und ihre Umsetzungsinstrumente entstehenden Ausfälle an Nutzungsentgelten durch Verzicht auf Vergütung dürften nicht von kreativen Menschen getragen werden, die sich selbst in einer schlechten wirtschaftlichen Situation befänden. Robert Staats, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der ?urheberrechtlichen Verwertungsgesellschaft VG Wort, sprach sich ebenfalls für die unveränderte Beibehaltung des beabsichtigten Vergütungsanspruchs aus, der „sachgerecht“ sei, und sieht die öffentliche Hand in der Pflicht. Die erforderlichen Summen seien „überschaubar“.
Susanne Barwick, stellvertretende Justiziarin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sagte, aus Sicht der Verlage sei es wichtig, dass die bisherige vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Blinden- und Sehbehindertenorganisationen und Verlagen fortgesetzt werden kann. Allerdings gehe der Entwurf teilweise über die Vorgaben hinaus. Kritikpunkte beträfen unter anderem die kommerzielle Verfügbarkeit, die angemessene Vergütung, fehlende Sorgfalts- und Informationspflichten der befugten Stellen sowie die Anzeigepflicht und Aufsicht. So müsse klargestellt sein, dass separate Vereinbarungen zwischen Rechteinhabern und Nutzern den Vergütungsanspruch der Verwertungsgesellschaften nicht berühren. Professor Christian Berger, Lehrstuhlinhaber und Urheberrechtsexperte von der Universität Leipzig, betonte, dass die Herstellung barrierefreier Formate durch Menschen mit einer Seh- oder Lesebehinderung vergütungsfrei möglich sei. Die Herstellung und Nutzung barrierefreier Formate durch befugte Stellen sei hingegen vergütungspflichtig. Der besondere soziale Zweck der Herstellung und Nutzung barrierefreier Formate müsse allerdings bei der Höhe der Vergütung berücksichtigt werden.