Expertenstreit über § 219a
Berlin: (hib/mwo) Die ganze Bandbreite der in der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte um eine mögliche Streichung oder Änderung des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche im Paragrafen 219a des Strafgesetzbuches vertretenen Meinungen spiegelte die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz am Mittwochabend wider. Die neun von den Fraktionen eingeladenen Sachverständigen aus Recht und Medizin sowie von Kirche und Gesellschaft beantworteten rund drei Stunden lang die Fragen der Abgeordneten, die bereits in der Plenardebatte über die drei Gesetzentwürfe von Linken, Grünen und FDP (19/93, 19/630, 19/820) im Februar kontroverse und zum Teil emotionale Standpunkte vertreten hatten.
Während Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen und FDP das Werbeverbot kippen beziehungsweise anpassen wollen, sind CDU/CSU und AfD dagegen. Auch die SPD hat einen Gesetzentwurf zur Aufhebung von 219a (19/1046) vorgelegt, der aber nicht Gegenstand der Anhörung war. In der Anhörung sprachen sich jeweils vier Sachverständige für eine Streichung beziehungsweise Beibehaltung des Paragrafen aus, einer plädierte für den Entwurf der FDP, der nur noch „grob anstößige“ Werbung unter Strafe stellen will. Die leidenschaftliche geführte Debatte wurde wiederholt vom Ausschussvorsitzenden Stephan Brandner (AfD) unterbrochen, der zwischenzeitlich sogar drohte, die Gästetribüne räumen zu lassen, da Unterstützer der Gesetzentwürfe die Sitzung störten und seine Ordnungsrufe ignorierten.
In dem 1933 eingeführten Paragraf 219a heißt es unter der Überschrift „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ in Absatz 1: „Wer öffentlich ... eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruches ... anbietet, ankündigt, anpreist ..., wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Im November 2017 hatte das Amtsgericht Gießen eine Ärztin verurteilt, weil diese auf ihrer Internetseite über einen Link „Schwangerschaftsabbruch“ eine PDF-Datei zum Download angeboten hatte, die allgemeine Informationen zum Schwangerschaftsabbruch sowie zu dessen Durchführung in ihrer Praxis enthielt.
Kontrovers diskutiert wurde in der knapp dreistündigen Anhörung unter anderem, was wichtiger sei: der Schutz des ungeborenen Lebens oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Bei diesem von den Abgeordneten alle Fraktionen immer wieder angesprochenen Thema gingen die Ansichten der Experten weit auseinander. Katharina Jestaedt vom Kommissariat der deutschen Bischöfe, Katholisches Büro in Berlin, und der Mannheimer Gynäkologe Michael Kiworr, Mitglied der Organisation „Ärzte für das Leben“, vertraten die Meinung, weder aus der Perspektive der gesamten gesetzlichen Lösung zum Schwangerschaftsabbruch noch im Hinblick auf den von der Verfassung gebotenen und deshalb vom Gesetzgeber besonders herausgestellten Schutz des ungeborenen Lebens, sei eine Streichung geboten. Jestaedt regte an, das Konzept der staatlichen Beratung, das zum Teil unterschiedlich verstanden werde, zu evaluieren und dar aus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Die auch von dem Augsburger Rechtsprofessor Michael Kubiciel vertretene Meinung, dass der Verbund der Schwangerschaftsabbruchparagrafen 218 und des Paragrafen 219a nicht aufgelöst werden dürfe, sorgte für heftigen Widerspruch der Professoren Ulrike Lembke vom Deutscher Juristinnenbund und Reinhard Merkel von der Universität Hamburg. Die Abschaffung von 219a würde mitnichten den mühsam errungenen gesellschaftlichen und rechtlichen Kompromiss der 1990er Jahre zum Schwangerschaftsabbruch in Frage stellen. Aus der Sicht von Lembke unterscheidet der Paragraf nicht zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen oder tatbestandslosen Schwangerschaftsabbrüchen und verfehle damit gerade den Kern des Kompromisses der 1990er Jahre. Lembke und Merkel empfahlen, nach einer Streichung des Paragrafen „anstößige Werbung“ als Ordnungswidrigkeit zu verfolgen.
Anders sieht das Andrea Redding, Geschäftsführerin des Vereins donum vitae zur Förderung des Schutzes des menschlichen Lebens, der bundesweit Beratungen anbietet. Sie mahnte, Lebensschutz Ungeborener und Selbstbestimmungsrechte von Frauen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. donum vitae sehe die beiden Paragrafen als zusammenhängendes Schutzkonzept, das nicht durch die Streichung von 219a beschädigt werden darf. Während Redding die Beratungspraxis als erfolgreich beschrieb, gab Daphne Hahn vom Beratungsstellenverbund pro familia zu Bedenken, dass wichtige Informationen über Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nur schwer zu bekommen seien und dass Frauen unter hohem Zeitdruck beschwerliche Informationswege gehen müssten, um ein adäquates Versorgungsangebot zu finden. In einigen Regionen Deutschlands gebe es zudem keine Ärzte, sodass die Suche zusätzlich erschwert werde. pro familia spreche sich daher für die Streichung des Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch aus .
Christiane Tennhardt, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe aus Berlin und Fachberaterin des Familienplanungszentrum Balance, betonte in ihrer Stellungnahme, dass aus der Entwicklung um den Paragrafen 219a eine Bedrohungssituation entstanden sei, die dazu beitrage, dass sich letztlich zunehmend Ärztinnen und Ärzte aus der Versorgung zum Schwangerschaftsabbruch zurückziehen. Moralische oder rechtliche Sanktionen verhinderten den Abbruch nicht, beeinflussten wohl aber die Bedingungen, unter denen die betroffenen Frauen und Mediziner mit dieser Situation umgehen können. Sie beklagte, dass die Beratungsstellen ihrer Informationsverpflichtung zum Teil gar nicht oder nur unzureichend ausüben beziehungsweise unterschiedlich interpretieren. Ihr Kollege Kiworr gab zu Bedenken, man dürfe in der Diskussion nicht vergessen, dass auch Ärzte, die aus Gewissensgründen keine Abbrüche durchführen, unter hohem Druck stünden.
Der Gesetzentwurf der FDP wurde von den meisten Experten als nicht praktikabel angelehnt. So sagte Kubiciel, er verbessere nicht die Informationsversorgung und leide überdies an mehreren immanenten Widersprüchen, die sich nur auflösen ließen, wenn man für eine Streichung plädiere. Der Kölner Universitätsprofessor Thomas Weigend empfahl dagegen den FDP-Entwurf als sachgerechte Lösung. Es bestehe ein legitimes Interesse daran, aggressive und anreißerische Werbung für Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten. Der geltende Paragraf 219a sollte daher auf ein Werbeverbot reduziert werden.
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