Zeuge spricht von „Cum/Ex-Industrie“
Berlin: (hib/mwo) Der Cum/Ex-Ausschuss hat seine Arbeit zur Untersuchung rechtlich fragwürdiger Steuergeschäfte mit Aktien fortgesetzt. In der ersten Sitzung nach der Sommerpause vernahmen die Mitglieder des 4. Untersuchungsausschusses in der achteinhalbstündigen öffentlichen Sitzung vier Zeugen, die aufschlussreich über das Vorgehen der Finanzverwaltungen gegen die Steuertrickser berichteten.
Der Ausschussvorsitzende Hans-Ulrich Krüger (SPD) betonte zu Beginn der 18. Sitzung, es gehe dem Ausschuss nicht darum, Schuldige zu finden, sondern darum, Netzwerke, Verfahren und Zusammenhänge zu erkennen.
Der als erster Zeuge aufgerufene Frankfurter Bankenbetriebsprüfer Stephan Rau erklärte, dass der Bundesfinanzhof (BFH) mit seinem Urteil vom Dezember 1999 zum wirtschaftlichen Eigentum bei Aktienkäufen die Grundlage für das Entstehen der Mehrfach-Erstattung gelegt habe. Das Urteil sei in das Jahressteuergesetz 2007 eingeflossen, mit dem er aber nicht glücklich gewesen sei. Beratungsgesellschaften hätten dessen Auslandslücke vermarktet - sozusagen die Bombe hingelegt - und die Investmentbanker hätten die Bombe dann gezündet. 2010 habe er Kenntnis von einem Strategiepapier einer englischen Bank erhalten, sagte Rau, und erstmals konkret gesehen, was der Markt so treibe. Er habe dann im Juli 2010 einen Aufsatz über die Funktionsweise des Systems veröffentlicht. Für Bankenbetriebsprüfer seien Leerverkäufe allerdings nicht sichtbar.
Bereits 2006 habe er zwei Vermerke bezüglich des Jahressteuergesetzes 2007 an das hessische Finanzministerium geschrieben, dass dieses angesichts der von Hessen betriebenen Revision beim BFH kontraproduktiv sei und sich aus dem Gesetz keine doppelte Anrechnung ableiten ließe. Dass es so lange bis zur endgültigen Unterbindung der Cum/Ex-Geschäfte durch das OGAW-IV-Gesetz ab 2012 gedauert habe, liege in der Natur der Sache, sagte Rau auf eine Frage von Krüger. Eine vollständige Systemumstellung brauche Zeit und lasse sich nicht aus dem Boden stampfen. Man hätte aber auch schon 2007 „die Reißleine ziehen können“ und in aller Ruhe eine neues Gesetz machen können. Mit den Schreiben des Bundesfinanzministeriums (BMF) sei der „gierige“ Markt nicht zu besänftigen gewesen.
Auf eine Frage nach den wissenschaftlichen Aufsätzen, mit denen die Steuersparmodelle offenbar unterfüttert wurden, sagte Rau, bei vielen habe man sehen können, dass es sich um Auftragsaufsätze handelt. Als Berater hätten sich dabei alle großen Wirtschaftskanzleien engagiert. Bei den Cum/Ex-Geschäften habe es „Riesen-Netzwerke“ gegeben, es sei alles organisiert gewesen und nichts dem Zufall überlassen worden. Die Gestaltungsmodelle seien 2009 und 2010 an die aktuellen Gegebenheiten angepasst worden, sagte Rau, der von einem eigenen Geschäftsfeld sprach.
Mit Blick auf seine Gespräche im BMF sagte er, er habe seinen Part gebracht, jetzt müsse Berlin aktiv werden. Rau sprach auch über seine Erfahrungen in den Banken. In den meisten Fälle dürften die dortigen Steuerfachleute nichts über die Vertriebsmethoden gewusst haben. „Dem Händler ist das Recht völlig egal“, und wenn er dann noch in London sitzt, erst recht.
Zusammenfassend sagte Rau: „Wir bestimmen nicht die Entwicklungen, sondern der Kapitalmarkt. Wir Betriebsprüfer laufen diesen Entwicklungen hinterher.“ Diese seien allerdings auch schwer zu verstehen und würden verschleiert. Das mache die Einrichtung eines Frühwarnsystems sehr schwer. Grünen-Obmann Dr. Gerhard Schick regte an, wegen der aus seiner Sicht fragwürdigen Urteile in der Cum/Ex-Thematik im Ausschuss zusätzlich zum Untersuchungsgegenstand auch die einschlägige Rechtsprechung zu berücksichtigen.
Als zweiten Zeugen befragte der Ausschuss den pensionierten Referatsleiter im hessischen Finanzministerium Wolfgang Schwarz. Schwarz legte zunächst dar, warum es aus seiner Sicht so lange gedauert hatte, die Problematik abzustellen. Ausgehend vom Schreiben des Bankenverbandes (BdB) vom Dezember 2002 sei 2007 ein neues Gesetz gemacht worden. Das damit verbundene Problem der nicht unterbundenen Auslandsgeschäfte habe er erst 2008 erkannt. Mit dem BMF-Schreiben von 2009, an dem Hessen mitgewirkt habe, habe dann unter anderem mit der Berufsträgerbescheinigung ein „Ausrufezeichen“ gesetzt werden sollen. Gefehlt habe aber eine gefestigte gesetzliche Grundlage. Er habe dann, so Schwarz, Kontakt zu Bankenvertretern aufgenommen, um sich einen Überblick zu verschaffen, was machbar sei. Er sei davon überzeugt gewesen, dass die Verlagerung der Abzugsverpflichtung vom Emittenten auf das auszahlende Institut die Lösung sei. Das neue Gesetz sei dann mit dem OGAW IV 2012 gekommen, mit dem der hessische Vorschlag umgesetzt worden sei.
Das BMF-Schreiben von 2009 bezeichnete Schwarz auf eine Frage des Obmanns der CDU/CSU-Fraktion, Christian Hirte, als Maßnahme, „um überhaupt mal einen Fuß in die Tür zu bekommen“ und Sand in das Getriebe der Leute zu streuen, die diese Geschäfte betrieben haben. Die ganze Problematik sei damit nicht gelöst worden, sie habe aber einen starken psychologischen Wert gehabt. „Die Hartgesottenen hat das nicht gejuckt“, fügte Schwarz hinzu. Zu den Überlegungen des Bankenbetriebsprüfers Rau, bei Aktienkäufen statt vom wirtschaftlichen vom zivilrechtlichen Eigentum auszugehen, sagte Schwarz, dieser Weg sei aus zwei Gründen nicht gangbar gewesen: Laut Bankenverband hätte das zu einer nicht vertretbaren Solitärstellung Deutschlands geführt, und das Bilanzsteuerreferat beim BMF hätte zu verstehen gegeben, dass man niemals am wirtschaftlichen Eigentum rütteln dürfe.
Für Erstaunen sorgte der dritte Zeuge, der Richter am Finanzgericht a. D. Arnold Ramackers. Er war geladen worden, weil er von 2004 bis 2008 vom Finanzgericht Düsseldorf an das BMF abgeordnet war und 2010 für drei Monate mit einem Teilzeitarbeitsvertrag noch einmal im BMF beschäftigt war, wo er sich nach eigenen Angaben mit den steuerlichen Auswirkungen des OGAW-Gesetzes befasste. Von 2008 bis 2009 ließ er sich für ein Jahr beurlauben und arbeitete in dieser Zeit selbständig bis zu seiner Pensionierung für den Bankenverband und gleichzeitig auch für das BMF, bezahlt wurde er aber von der Kreditwirtschaft. Nach 2010 beriet er weiterhin Bankenverband und Ministerium, aber ohne Honorar, sondern als „fachlich interessierter Staatsbürger“, wie Ramackers es ausdrückte. Ramackers hatte für den von dem Steueranwalt Dr. Hanno Berger herausgebenen Kommentar zum Investmentsteuerrecht einen Beitrag verfasst. Gegen den mittlerweile in der Schweiz lebenden Berger wird wegen der Cum/Ex-Geschäfte ermittelt. Er habe Berger aber niemals getroffen, sagte Ramackers. Im BMF sei er zunächst nicht mit der Cum/Ex-Thematik befasst gewesen. Später habe er sowohl das BMF als auch den BdB dabei unterstützt, das Problem zu lösen. Nach Ansicht von Schick betätigte sich Ramackers als Broker, wobei die Informationsflüsse in die eine Richtung besser gewesen seien, als in die andere.
Anschließend stellte sich Klaus Poppenberg, Referatsleiter im BMF, den Fragen der Ausschussmitglieder. Er sagte aus, erstmals im Herbst 2008 von den Cum/Ex-Geschäften gehört zu haben. Im März 2009 habe er eine diesbezügliche anonyme Anzeige erhalten. Er habe die Gremien informiert und Kontakt zum Bankenverband aufgenommen und das weitere Vorgehen beraten. 2010 habe das BMF Informationen eines Whistleblowers erhalten, die nach Hessen weitergeleitet worden seien. Von Krüger nach einer weiteren E-Mail vom März 2011 befragt, in der sich der Absender darüber beklagt habe, dass die Initiatoren der Cum/Ex-Geschäfte von einem Mitarbeiter des Ministeriums informiert worden seien, sagte Poppenberg, er habe zu diesem Zeitpunkt das Referat gewechselt.
Zum BMF-Schreiben vom 5. Mai 2009 sagte Poppenberg, das Ministerium habe in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen ganz schnell eine Reaktion zeigen wollen, denn eine Gesetzesänderung dauere länger und sei auch schwieriger als gedacht gewesen. Im Dezember 2010 habe es dann ein weiteres BMF-Schreiben gegeben, mit dem Hinweis auf das kommende Gesetz. Damit werde es bei Leerverkäufen keine Erstattungen mehr geben, und bei Verstößen hafte die Depotbank. Befragt von Schick zur Mitarbeit Ramackers am ersten BMF-Schreiben, sagte Poppenberg, er könne Schicks Eindruck, dass Ramackers eher gebremst habe, nicht bestätigen. Zu Schätzungen über den durch Cum/Ex verursachten Schaden sagte Poppenberg: „Zwölf Milliarden sagen mir nichts.“
Befragt von SPD-Obmann Andreas Schwarz zu den Kontakten des BMF zum Bankenverband und zu Clearstream sagte Poppenberg, er habe durchaus das Gefühl gehabt, dass der Verband die Tragweite erkannt habe und die Problematik ernsthaft habe beseitigen wollen. Bei Clearstream hätte er dagegen mehr erwartet, es sei kein Vorschlag gekommen. Poppenberg äußerte sich auch zum Steuerprüfer Stephan Rau, den man in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „unbedingt dabeihaben“ wollte. Es habe aber „nichts von Herrn Rau gegeben, wo wir sagten: Das ist es.“ Zum regen Austausch mit der Kreditwirtschaft, den Schick als fehlendes Problembewusstsein kritisierte, sagte Poppenberg, die Schreiben würden grundsätzlich abgestimmt, da die Banken als Erfüllungsgehilfen des Staates Steuern einbehielten. Die Zusammenarbeit dürfe aber nicht zu vertrauenswürdig sein. Im Anschluss an die öffentliche Befragung wurden die Vernehmungen Poppenbergs und Raus in einer als geheim eingestuften Sitzung fortgesetzt.
Der Ausschuss wurde auf Antrag der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke eingesetzt, um die Ursachen der Entstehung der Cum/Ex-Geschäfte und deren Entwicklung von 1999 bis 2012 zu untersuchen. Bei diesem Steuermodell wurde durch kurz hintereinander erfolgenden (Leer-)Verkauf und außerbörslichen Aufkauf von Aktien kurz vor und nach dem Dividendenstichtag eine doppelte Erstattung von Kapitalertragsteuer erzielt. Dem Fiskus sollen dadurch Milliardeneinnahmen entgangen sein. Der Ausschuss soll auch klären, wer gegebenenfalls die Verantwortung für die nicht erfolgte Unterbindung der Cum/Ex-Geschäfte trug.
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