Strategien gegen Wohnungslosigkeit von jungen Menschen
Berlin: (hib/SAS) Breite Zustimmung haben die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen von Sachverständigen für ihre Initiativen gegen Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen erfahren. In einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montagnachmittag unter der Leitung von Sabine Zimmermann (Die Linke) begrüßten die Experten ausdrücklich, dass mit den Anträgen von Linksfraktion (19/24642) und Grünen (19/20785) das Problem auf die Agenda des Parlamentes komme. Zwar gab es durchaus Kritik im Detail, doch waren sich die Sachverständigen einig, dass dringender politischer Handlungsbedarf bestehe. Steigende Mieten und knapper Wohnraum hätten die Zahl wohnungsloser junger Menschen steigen lassen. „Sie sind längst kein Randphänomen mehr“, unterstrich einer der Experten. Auch die Corona-Pandemie habe die Situation der Betroffenen zusätzlich verschärft.
So wies etwa Sascha Facius, wissenschaftlicher Referent beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, darauf hin, dass Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge 2018 etwa 19.000 Kinder und minderjährige Jugendliche wohnungslos waren. Auch eine Studie zum 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung komme zu dem Ergebnis, dass 2018 „jede fünfte von Wohnungslosigkeit bedrohte Person nicht volljährig war“. Angesichts dieser Zahlen sei es „gut und richtig“, dass nun über einen gemeinsamen, kooperativen Ansatz debattiert werde, der die „besondere Problematik“ junger von Wohnungslosigkeit betroffener oder bedrohter Menschen „ganzheitlich und rechtskreisübergreifend“ betrachte.
Birgit Fix, Referentin für Armuts- und Arbeitsmarktfragen beim Deutschen Caritasverband, erklärte, die Pandemie zeige die schwierige Situation wohnungsloser junger Menschen „wie in einem Brennglas“. Dennoch hätten Politik und Medien das Thema noch nicht „wirklich auf dem Radar“. Der Bund könne jedoch mit „klugen Rahmenbedingungen“ wie der Schaffung von günstigem Wohnraum zur Prävention und Bekämpfung von Wohnungslosigkeit wirksam beitragen, sagte Fix. In diesem Zusammenhang plädierte die Sachverständige für die Wiedereinführung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Auch das Jugendwohnen solle ausgebaut und zur Pflichtleistung werden.
Auch Andrea Pingel von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit sprach sich für einen Ausbau von unterschiedlichen Wohnmöglichkeiten für junge Menschen aus. Selbst jene, die ein eigenes Einkommen hätten, seien auf dem Wohnungsmarkt gegenwärtig „ohne Chance“. Ein weiteres Problem: Bestehende Hilfssysteme reichten nicht, um junge Menschen in prekären Lebenslagen zu unterstützen - Sanktionierungen führten oftmals auch dazu, dass sie „verloren“ gingen. Dieser „Exklusion“ müsse mit der anstehenden Reform der Kinder- und Jugendhilfe entgegengewirkt werden, forderte Pingel. Rechtsansprüche von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf Teilhabe, Ausbildung und Wohnen gelte es zu stärken. „Weder der 18. oder der 21. Geburtstag und schon gar nicht die aktuelle Kassenlage oder mangelnde Zuständigkeit dürfen Gründe sein, die Hilfen einzustellen, wenn Selbstständigkeit noch nicht gesichert ist“, mahnte die Expertin.
Dieser Forderung schloss sich Ronald Prieß, Botschafter der Straßenkinder Hamburg, an: Die Ausweitung der Altersgrenzen für individuelle Unterstützung, für die sich auch Die Linke in ihrem Antrag einsetze, müsse Teil der geplanten Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sein, forderte er mit Blick auf die sogenannten Careleaver - junge Erwachsene, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Kinder- und Jugendhilfe verbracht haben und sich am Übergang in ein eigenständiges Leben befinden. Dies sei eine Frage der Gerechtigkeit: „Careleaver müssen schneller erwachsen werden als andere Jugendliche, haben aber schlechtere Chancen“, so Prieß. Zudem drängte er darauf, wohnungslosen jungen Menschen, die von der Corona-Pandemie besonders betroffen sind, schnell und unkonventionell zu helfen, etwa durch eine Unterbringung in Hotels: „Da schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Hotels sind leer, die Kids müssen von der Straße.“
Angela Smesseart, stellvertretende Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), appellierte, als Akuthilfe auch die Angebote etwa von Jugendherbergen und Jugendbildungsträgern anzunehmen. Die sichere Unterbringung von wohnungslosen Jugendlichen sei dringend erforderlich, da deren üblichen Überlebensstrategien in der Pandemie nicht mehr griffen: „Schnorren oder Übernachtungen bei wechselnden Freunden“ seien im Lockdown nicht mehr möglich, Hilfsangebote und Jugendämter nur noch eingeschränkt erreichbar, erläuterte Smesseart. Und spezialisierte Notunterkünfte seien ebenfalls selten. Die Vertreterin der AGJ forderte zur Prävention von Wohnungslosigkeit eine „hinreichende Ausstattung der bestehenden Angebote“, darunter die offene und mobile Jugendarbeit, die Jugendsozialarbeit und das Jugendwohnen. Diese „volle Spanne der Hilfen“ sei unverzichtbar.
Wolfgang Schröer, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim, forderte, der Bund müsse die Kommunen stärker unterstützen. Die kommunale Sozialpolitik habe das Problem der Wohnungslosigkeit bei jungen Menschen zwar erkannt, doch „Jugendhilfe und Jobcenter“ könnte es nicht allein lösen. Eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit sei deshalb gefragt. Dazu gebe es Modelle in vielen Regionen, so Schröer. „Diese Modelle brauchen die landes- und bundespolitische Stärkung, dass sie erwünscht sind.“ Ein weiteres Manko sei, dass in der Diskussion um den Wohnungsnotstand das Problem der Armut im jungen Erwachsenenalter noch nicht systematisch genug betrachtet werde, monierte der Wissenschaftler.
Ruth Seyboldt, Vorsitzende des Vereins Careleaver, wies darauf hin, dass nicht nur der Mangel an finanzierbarem Wohnraum ein Grund dafür sei, dass in Deutschland Kinder und Jugendliche ohne festen Wohnsitz lebten. „Heranwachsende entscheiden sich auch bewusst gegen die Jugendhilfe. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Bedürfnisse in diesem System nicht ernst genommen werden“, erklärte Seybold und sprach sich deshalb unter anderem für unabhängige Ombudsstellen aus. Junge Menschen brauchten individuelle, passgenaue Lösungen. Im „Dschungel potenzieller Sozialleistungen“ fänden sie sich allein nicht zurecht. Ihnen sollten zur Unterstützung „Lotsen“ zur Seite gestellt werden.