Arbeitszeiterfassung: Ein Urteil, viele Interpretationen
Berlin: (hib/CHE) Eine gesetzliche Pflicht für Arbeitgeber, jede Arbeitsstunde der Beschäftigten zu erfassen, wird von Arbeitgeber-Vertretern skeptisch bewertet. Das wurde in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag deutlich. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) befürwortet dagegen die von den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke vorgeschlagenen Änderungen des Arbeitszeitrechts gemäß den Vorgaben eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom Mai 2019. Ein von der AfD-Fraktion eingebrachter Gesetzentwurf zur Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes wurde von Arbeitgeberseite als nicht praxistauglich bewertet.
Gegenstand der Anhörung war zum einen ein Gesetzentwurf der AfD-Fraktion (19/1841). Mit diesem will die Fraktion unter anderem erreichen, die Unterscheidung zwischen Befristungen mit und ohne Sachgrund aufzuheben und durch eine generelle Regelung zu ersetzen, die eine befristete Anstellung für maximal 24 Monate erlaubt. Die Sachverständigen äußerten sich ebenso zu zwei Anträgen von Linken und Grünen. Die Linke verlangt in ihrem Antrag (19/17134) das Arbeitszeitgesetz gemäß des EuGH-Urteils so zu ergänzen, dass es Arbeitgeber verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit taggenau aufzuzeichnen. Die Grünen fordern in ihrem Antrag (19/20585), das Urteil des EuGH umzusetzen und den Beschäftigten mehr Einfluss auf Dauer, Lage und Ort ihrer Arbeit zu ermöglichen.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) betonte in ihrer Stellungnahme: „Notwendig ist die Verhinderung neuer und die Begrenzung, besser noch die Abschaffung, alter Bürokratie. Daher gehen die Anträge der Grünen und Linken und der Gesetzentwurf der AfD-Fraktion zum Befristungsrecht in die falsche Richtung.“ Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) schrieb, es existiere bereits nach der derzeitigen Rechtslage ein „umfassender Rechtsrahmen“ zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten. Der Professor für Arbeitsrecht an der Helmut Schmidt Universität Hamburg, Hans Hanau, stellte fest, die Anträge beruhten auf einem „weit verbreiteten Missverständnis“. Das Urteil werde ganz überwiegend so verstanden, als habe der EuGH die flächendeckende Einführung von Systemen zur Aufzeichnung der Arbeitszeit angeordnet. „Tatsächlich kommt dieser Begriff jedoch in der Entscheidungsbegründung kein einziges Mal vor. Es ist lediglich vom Messen beziehungsweise dem Feststellen der Arbeitszeit die Rede“, schrieb Hanau in seiner Stellungnahme. Dieser Unterschied sei „elementar“.
Der DGB befürwortete dagegen eine gesetzliche Anpassung und schrieb: „Eine korrekte Umsetzung der EuGH-Entscheidung setzt neben einer generellen Zeiterfassungspflicht für alle Arbeitgeber auch die Umsetzung der Vorgaben der Objektivität, Verlässlichkeit und Zugänglichkeit voraus.“ Johanna Wenckebach vom Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht betonte in ihrer Stellungnahme: „Die Begrenzung von Arbeitszeit dient dem Schutz der Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Hier sind Arbeitgeber aufgrund des EuGH-Urteils bereits jetzt in der Pflicht. Ohne eine Erfassung der Arbeitszeit, für die der EuGH klare Vorgaben gemacht hat, können Arbeitgeber dieser Verpflichtung nicht nachkommen.“ Frank Bayreuther, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Passau, sprach sich in seiner Stellungnahme ebenfalls für gesetzliche Änderungen aus: Es genüge nicht, ein Zeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die Arbeitszeit gemessen werden kann, ohne den Arbeitgeber dazu anzuhalten, dass das System auch genutzt wird. „Würde so verfahren, wäre es der Entscheidung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überlassen, ob diese von dem ihnen angebotenen System Gebrauch machen wollen oder nicht.“ Laut Bayreuther weisen die Vorgaben des EuGH „klar auf eine abstrakte Erfassungspflicht“ hin.