Kritik an US-Sanktionen gegen Pipeline
Berlin: (hib/FLA) Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) hat die US-Sanktionen gegen den Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland verurteilt: „Ich glaube, es wird nicht ohne Gegensanktionen gehen“, sagte der Aufsichtsratsvorsitzende der Nord Stream AG am Mittwoch im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Schröder legte Wert darauf, als einer der Sachverständigen eingeladen worden zu sein zu einer öffentlichen Anhörung. Die Sitzung unter Leitung von Klaus Ernst (Die Linke) stand unter der Überschrift „Sicherung der Souveränität deutscher und europäischer energiepolitischer Entscheidungen (Nord Stream 2)“
Die Arbeiten an der überwiegend fertiggestellten zweiten Gaspipeline nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern mussten nach ersten US-Sanktionen gegen die Unternehmen von Verlegeschiffen eingestellt werden. Gegen die für Herbst geplante Wiederaufnahme der Arbeiten mit einem nun russischen Spezialschiff drohen neuerliche Sanktionen jetzt gegen alle rund 120 beteiligten Firmen und sogar deutschen Amtsträgern gemäß dem im Juni vorgelegten Gesetzentwurf „Protecting Europe's Energy Security Clarification Act“ (PEESCA) - das rückwirkend zum 19. Dezember 2019 in Kraft treten soll.
Schröder mochte sich nicht dazu äußern, wie Gegensanktionen aussehen können. Er mahnte dazu, angesichts des Beginns einer umfassenden Politisierung der Handelsbeziehung durch die USA den Anfängen zu wehren. Er werde „den Deubel tun“, sich russische Reaktionen vorzustellen. Sollte die Pipeline nicht zu Ende gebaut werden, müssten Investitionen in Höhe von zwölf Milliarden Euro abgeschrieben werden. Jährlich fielen zusätzliche Kosten für Erdgasbeschaffung in Höhe von fünf Milliarden Euro an. Falsch sei aber, beim Projekt Nord Stream 2 jetzt schon die Flinte ins Korn zu werfen. Er dämpfte die Hoffnung, dass sich mit einer möglichen Wahl von Joe Biden zum neuen US-Präsidenten im November bald etwas an der Handelspolitik der USA ändern werde.
Michael Harms (Ost-Ausschuss - Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft) hielt es für wichtig, dass die EU ihre Resilienz, also ihre Widerstandskraft gegen Angriffe von außen stärkt. Er regte einen EU-Schutzschirmmechanismus für zu Unrecht von Sanktionen betroffene europäische Unternehmen an. Forderungen nach wirtschaftlichen Sanktionen gegen die US-Wirtschaft etwa in Form von Strafzöllen und persönlichen Gegensanktionen gegen US-Abgeordnete sah er kritisch. Statt in eine Spirale aus Gegensanktionen und Protektionismus zu kommen, solle im Gegenteil gerade internationales Recht gestärkt werden.
Felix Helmstädter (Morrison & Foerster) meinte, es helfe betroffenen Unternehmen wenig, dass das exterritoriale Vorgehen der USA als völkerrechtswidrig eingestuft werden könne. Sie seien in der schwierigen Lage, entweder gegen EU-Recht oder gegen US-Sanktionsrecht zu verstoßen. Er gehe davon aus, dass sich die Firmen an Sanktionen halten würden, wenn sie denn von den USA verhängt werden.
André Wolf vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut, erklärte, für geäußerte Befürchtungen, das Projekt könnte zu einer gefährlichen Dominanz Russlands als Energieanbieter führen, bestehe aktuell wenig Grundlage. Angesichts zur Neige gehender Ressourcen in der Nordsee werde der Lieferanteil Russlands auch ohne Nord Stream 2 steigen. Von einem wachsenden Erpressungspotenzial zu sprechen, erscheine dennoch unangemessen, da Russland im Hinblick auf seinen Staatshaushalt aller Voraussicht nach auch zukünftig auf die Einnahmen aus Energieexporten Richtung Europa in bedeutendem Maße angewiesen sein werde.
Timm Kehler (Zukunft Erdgas) meinte, auch jenseits des Energiesektors dürfe es für die wirtschaftliche Entwicklung Europas nicht akzeptabel sein, wenn die USA zunehmend mittels des Instruments von Sanktionen Handelspolitik betrieben. Eine geschlossene Position des Bundestags, flankiert durch eine starke Reaktion anderer betroffener EU-Staaten und eine Intervention der EU-Kommission bei der US-Regierung, sei geboten. Neue Erdgasinfrastrukturen seien für die sichere Gasversorgung Europas von zentraler Bedeutung und dürften nicht durch extraterritoriale Sanktionen gefährdet werden.
Für Kirsten Westphal (Stiftung Wissenschaft und Politik - SWP) erweist es sich angesichts des neuen internationalen Umfelds als Problem, dass der Staat heute über keine direkten Einflusskanäle im Energiesektor verfüge und sich Deutschlands Marktmacht außenpolitisch nur unzureichend hebeln lasse. Um im Machtkonzert der Großen Gehör zu finden, solle die Herstellung europäischer Souveränität klarer Referenzpunkt deutscher Energiepolitik sein. Überdies könnten Deutschland und die EU ein „Airbus-Projekt“ europäischer Staaten für Lithium-Ionen-Batterien und vielleicht auch im Wasserstoffbereich anstoßen.
Volker Treier (Deutscher Industrie- und Handelskammertag - DIHK) stellte fest, dass der aktuelle Instrumentenkasten der EU kein wirksames Mittel enthalte, welches deutsche Unternehmen vor exterritorialen Sanktionen schützt. Deutsche Unternehmen müssten vor der rechtlichen wie politischen Einflussnahme durch Drittstaaten geschützt werden. Eine Eskalation von Handelskonflikten wäre nach seinem Dafürhalten allerdings nicht im Interesse der deutschen Unternehmen. Gegensanktionen mit exterritorialer Wirkung seien kein ratsam anzuwendendes Mittel.
Jonathan Hackenbroich (European Council on Foreign Relations) legte dar, dass Deutschland und Europa den Entschluss fassen müssten, einen schwerwiegenden Präzedenzfall zu verhindern. Es könne nicht sein, dass deutsche Amtsträger oder Unternehmer bedroht würden, damit Washington, Peking oder andere Staaten geopolitische oder wirtschaftliche Ziele erreichen. Besonders besorgniserregend sei, dass es sich wie bei den Nord-Stream-2-Sanktionen um Politikideen aus dem Kongress, nicht aus dem Weißen Haus handle. Deutschland und Europa könnten in zwei Bereichen reagieren: Resilienz europäischer Handelsbeziehungen gegenüber Sanktionen - und Gegenmaßnahmen, die Europa aufgebürdete Nachteile ausgleichen und eine abschreckende Wirkung haben.
Zu Beginn der Sitzung hatte der Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen (SPD) einen drohenden schwerwiegenden Angriff gegen die EU-Souveränität kritisiert. Es sei damit zu rechnen, dass das US-Gesetz bald komme. Er riet zu politischen Verhandlungen, Sanktionen seien der falsche Weg. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Thomas Bareiß (CDU), sprach von einem massiven Angriff auf die Energiesouveränität Deutschlands und Europas.