Kontroverse um Sozialschutzempfehlung
Berlin: (hib/HAU) Die Empfehlung des Europäischen Rates für einen besseren Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmer und Selbständige und der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf (19/8460), der die Grundlage dafür schaffen soll, dass der deutsche Vertreter im Rat dem Vorschlag zustimmen darf, werden von Experten unterschiedlich bewertet. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montag deutlich. Der Ratsvorschlag soll vor allem dem Grundsatz 12 der Europäischen Säule sozialer Rechte dienen, wonach alle Arbeitnehmer, unabhängig von der Art und Dauer ihres Beschäftigungsverhältnisses, aber auch Selbständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz haben. Die Ratsempfehlung sei rechtlich nicht bindend und begründe keine neue sozialpolitische Kompetenz auf europäischer Ebene, schreibt die Bundesregierung. Für Deutschland ergebe sich daraus keine Handlungsverpflichtung.
Kritik an der Ratsempfehlung übten Arbeitgebervertreter. Aus Sicht der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) besteht bei einigen Vorschlägen der Empfehlung das Risiko, dass damit in nationale Sozialsysteme eingegriffen werde, was gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoße, sagte die BDA-Vertreterin. Aus ihrer Sicht darf beispielsweise eine geringfügige Beschäftigung keinen vollumfassenden Krankenversicherungsanspruch auslösen, da dies die Gesamtheit der Beitragszahler zu stark belasten und die Tragfähigkeit des Systems bedrohen würde. Die Schaffung eines Überwachungsrahmens für die Umsetzung der Empfehlung stehe zudem im Widerspruch mit dem nicht rechtsverbindlichen Charakter der Empfehlung und sei daher strikt abzulehnen.
Der Vertreter des Gesamtverbandes der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie bewerte das ähnlich. In keiner Ratsempfehlung der vergangenen zwei Jahre gebe es einen ähnlich eng getakteten Umsetzungsplan wie im vorliegenden Fall, sagte er.
Der Einzelsachverständige Professor Gunnar Beck sagte, der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe schon mehrfach rechtlich eigentlich nicht bindende Empfehlungen als „Soft Law“ zur Urteilsbegründung herangezogen. Die EU-Kommission handle nach dem Motto: Regt sich kein Widerstand, ist der Weg frei für einen bindenden Gesetzentwurf. Daher müsse man sich ganz kategorisch gegen die Empfehlung aussprechen, sagte Beck.
Es dürfe kein Popanz aufgebaut werden, sagte hingegen Professor Ulrich Becker vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Es gehe nicht darum, dass Kompetenzen auf die EU übertragen würden. Vielmehr gehe es darum, Vereinbarungen zu treffen, um gemeinsam in den EU-Mitgliedstaaten sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen. Ein Thema dabei sei die Absicherung der Selbstständigen. Nicht gedeckt durch die Empfehlung sei die Vorstellung, jeden Arbeitnehmer zwingend in die Sozialversicherung bringen zu müssen, befand Becker.
Die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten blieben unberührt, hieß es auch vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Es gebe auch keinen Hinweis darauf, dass die EU eine weitergehende Gesetzgebung vorbereitet, sagte der GKV-Vertreter, der die Zielrichtung der Empfehlung begrüßte, weil sie „im Interesse der Beitragszahler ist“.
Keine Probleme mit der Regelung hat die Deutsche Rentenversicherung Bund. Es spräche einiges dafür, nicht nur den Zugang zu Alterssicherungssystemen zu ermöglichen, was in Deutschland ohnehin der Fall sei. Begrüßenswert wäre es aus Sicht des Vertreters der Rentenversicherung, dies obligatorisch zu machen, wie es der Koalitionsvertrag von Union und SPD auch vorsehe.
Nach Auffassung der Interessengemeinschaft der selbständigen Dienstleister in der Veranstaltungswirtschaft ist eine abgesenkte Mindestbeitragsgrenze für Selbstständige in der GKV zu begrüßen. Noch besser wäre es, wenn die Beiträge an das Einkommen der Selbständigen angebunden würden. Mit Blick auf eine Arbeitslosenversicherung plädierte der Verbandsvertreter im Falle der Selbstständigen für eine Freiwilligkeit.
Dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) fehlt es bei der Empfehlung an der ausreichenden Regelungstiefe, wie der DGB-Vertreter sagte. Eine rechtlich viel konkretere Handhabe sei wünschenswert. Aus Sicht des DGB hätte das in Form einer EU-Richtlinie erfolgen sollen. Nötig sei es auf jeden Fall, europaweite Mindeststandards zu beschließen.
Die Einzelsachverständige Monika Queisser forderte, Sozialversicherungsbeiträge so weit wie möglich über alle Beschäftigungsformen hinweg zu harmonisieren. Es habe sich gezeigt, dass freiwillige Systeme für atypisch Beschäftigte nicht gut funktionieren, sagte sie.
Der Einzelsachverständige Professor Uwe Fachinger sagte, prinzipiell wäre eine Fassung des Arbeitnehmer- und Erwerbstätigenbegriffs wünschenswert, mit der die klassische Kategorisierung des Erwerbsstatus überwunden werde, „ohne allerdings die etablierten Statistiken obsolet werden zu lassen“.
Die Einzelsachverständige Veronika Mirschel sprach sich für das kollektive System der gesetzlichen Rentenversicherung als Erwerbstätigenversicherung aus. Ziel müsse es sein, allen Erwerbstätigen eine ungebrochene Versicherungsbiographie zu ermöglichen. Bei der Einführung einer Altersvorsorgepflicht müssten umfassende Übergangsregeln die finanzielle Überforderung bereits Vorsorgender verhindern, sagte sie.