Breites Ja zu Video-Vernehmungen
Berlin: (hib/PST) Eine vermehrte Videoaufzeichnung polizeilicher Vernehmungen ist in einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses ganz überwiegend auf Zustimmung bei den Sachverständigen gestoßen. Gegenstand war ein Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ (18/11277). Dessen Ziel ist laut Begründung die Entlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften bei Wahrung und teilweise Stärkung der Rechte von Beschuldigten. Der Gesetzentwurf schlägt dazu eine Vielzahl von Regelungen vor, darunter auch zu Videoaufzeichnungen in Ermittlungsverfahren. Grundlage waren Empfehlungen einer vom Bundesjustizministerium 2014 eingesetzten Expertenkommission. Mehrere Sachverständige monierten, dass diese nur in geringem Umfang umgesetzt worden seien, und äußerten den Wunsch nach einer umfassenden Reform sowohl des Strafprozessrechts als auch des Ermittlungsrechts in den nächsten Legislaturperiode.
Im Mittelpunkt der Anhörung stand aber die Videoaufzeichnung. Sie ist bisher nur bei der Vernehmungen von Zeugen in Verfahren wegen sexuellen Mißbrauchs zulässig, um ihnen den belastenden Auftritt vor Gericht zu ersparen. Der Gesetzentwurf sieht nun die verpflichtende audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren vor, beschränkt allerdings auf Tötungsdelikte und auf Fälle besonderer Schutzbedürftigkeit der Beschuldigten. Im Gesetzentwurf heißt es dazu, Videos von Vernehmungen könnten nicht nur die Wahrheitsfindung optimieren, sondern öfter auch die persönliche Ladung von bereits Vernommenen vor Gericht verzichtbar machen.
Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof,Axel Boetticher, bemängelte an dieser Regelung lediglich, dass sie enger gefasst sei als im Referentenentwurf. In Sexualstrafverfahren hätten Video-Vernehmungen erheblich zur Aufklärung des Sachverhalts sowie zur Vereinfachung der Verfahren beigetragen, sagte Boetticher unter Verweis auf Berichte von Richter-Kollegen. Eine Erfahrung mit dem seit 1998 zugelassenen Video-Aufzeichnungen bei sexuellem Missbrauch sei auch, dass es seltener zu Revisionsverfahren kommt.
Obwohl Richter und Verteidiger gewöhnlich von unterschiedlichen Interessen geleitet sind, schloss sich der Berliner Rechtsanwalt Stefan Conen den Ausführungen Boettichers voll an. Für die bisher gebräuchlichen Vernehmungsprotokolle gebe es „keinerlei Qualitätsmaßstab“. Wenn ein Protokoll nicht mit dem übereinstimme, was der Beschuldigte tatsächlich gesagt hat, könne dieser das später vor Gericht nicht beweisen. Auch lasse sich nicht rekonstruieren, ob und wie der Beschuldigte vor der Vernehmung belehrt worden ist und ob er in einem vernehmungsfähigen Zustand war. Eine Video-Vernehmung sei also auch im Interesse der Beschuldigten.
Conen plädierte daher dafür, die Beschränkung auf Tötungsdelikte zu streichen und alle Vernehmungen aufzuzeichnen. Auch der Berliner Rechtsanwalt Ali B. Norouzi als Vertreter des Deutschen Anwaltsvereins plädierte dafür, die audiovisuelle Aufzeichnung bei allen Vernehmungen vorzuschreiben.
Größere Vorbehalte äußerte einzig der Richter am Landgericht München Markus Löffelmann. Insbesondere sprach er sich dagegen aus, die Videoaufzeichnung in bestimmten Fällen vorzuschreiben. Sie könne „im Einzelfall sinnvoll sein“, sagte er, aber man solle es ins Ermessen der Vernehmungspersonen stellen, ob und wann sie eingesetzt wird. Bei der Vernehmungen von Beschuldigten könne eine Videoaufzeichnung deren Recht, sich nicht selbst zu belasten, einschränken, gab Löffelmann zu bedenken. Das unterscheide sie von Zeugenvernehmungen. Mit der Videoaufzeichnung produziere der Beschuldigte ein zusätzliches Beweismittel und schränke damit seine Verteidigungsmöglichkeiten ein.
Auch dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung sei nicht gedient, sagte Löffelmann, da das Sichten von Videos sehr viel mehr Zeit beanspruche als das Lesen eines Vernehmungsprotokolls, in dem „zum Teil stundenlange Vernehmungen auf die wesentlichen Aussagen kondensiert“ würden. Dem hielt der Richter am Bundesgerichtshof Andreas Mosbacher entgegen, er habe „Tage und Wochen damit verbracht, Polizeibeamte anzuhören“, um herauszufinden, was in einer Vernehmung tatsächlich gesagt worden sei. Mit einer Videoaufzeichnung falle „der ganze Streit weg, was in einer Vernehmung gesagt wurde“.
Mosbachers Kollege am Bundesgerichtshof, Henning Radtke, äußerte allerdings die Sorge über „schleichende Veränderungen“ der Strafverfahren, denen „kein Gesamtkonzept“ zugrunde liege. Er rate als ersten Schritt zu einer großen Strafprozessreform in der nächsten Legislaturperiode. Bei einer ganz anderen Struktur der Verfahren sei dann auch eine Ausweitung der audio-visuellen Vernehmung sinnvoll. Alternativ schlug Radtke vor, sich zunächst auf eine Soll-Vorschrift zu beschränken.
Die unterschiedlichen Rollen von Richtern und Anwälten verdeutlichten sich wieder an anderen Punkten des Gesetzentwurfs. Dieser enthält mehrere Änderungen, die helfen sollen, Verzögerungen im Hauptverfahren durch Befangenheitsanträge zu vermeiden. So kann zunächst mit der Hauptverhandlung begonnen werden, wenn ein Richter erst kurz vor ihrem Beginn abgelehnt wird. Auch sollen die Möglichkeiten beschränkt werden, Verfahren durch neue Beweisanträge zu verzögern. Das Beweisantragsrecht an sich soll aber nicht eingeschränkt werden.
Der Hamburger Richter Marc Wenske als Vertreter des Deutschen Richterbundes bescheinigte dem Gesetzentwurf, es gelinge ihm „weitgehend, den widerstrebenden Interessen der Verfahrensbeteiligten gerecht zu werden“. Er verhindere eine bewusste Verzögerung von Verfahren durch schubweise eingebrachte Beweisanträge - Wenske sprach von „Geysiranträgen“. Dagegen beklagte Ali B. Norouzi die Beschneidung eines „für die Verteidigung ganz wesentlichen Instruments“. Er sprach vom „schwerwiegendsten Eingriff in das Beweisantragsrecht seit seiner Abschaffung 1939“. Norouzis Kollege Stefan Conen sagte, aus dem Gesetzentwurf spreche „ein generelles Misstrauen gegen Verteidiger“.
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