1. Untersuchungsausschuss

Zeugin: BND-Lageberichte im August 2021 überholt

Flüchtlinge besteigen im August 2021 eine amerikanische Militärmaschine.

Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss setzte seine Zeugenvernehmungen fort. (© picture alliance / newscom | Hassan Majeed)

Zeit: Dienstag, 10. September 2024, 19 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.300

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat am Dienstag, 10. September 2024, die Befragung von Petra Sigmund fortgesetzt, seit August deutsche Botschafterin in Japan und zur Zeit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 Leiterin des Referats Asien und Pazifik im Auswärtigen Amt (AA). Dabei bekräftigte die Zeugin ihre Aussage aus der ersten Vernehmung am 4. Juli, dass der damals vorliegende Lagebericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) „veraltet“ gewesen und „von den sich überstürzenden Ereignissen“ in Kabul überholt worden sei.

Unterschiedliche Lagebewertung

Sigmund berichtete auf Befragung erneut von mehreren Sitzungen im AA in den Tagen vom 12. bis 16. August 2021, darunter „Hausbesprechungen“ und Konferenzen des Krisenstabes. Dabei sei die Besprechung am 12. August nach ihrer Erinnerung die erste Sitzung dieser Art nach der Corona-Pandemie gewesen, die wieder „in Präsenz“ stattgefunden habe, nicht virtuell. Es habe in dieser Zeit täglich Zusammenkünfte im Ministerium gegeben, bei denen das Thema Afghanistan erörtert worden sei.

Bei der „Hausbesprechung“ am 12. August 2021 sei für den 16. August eine Sitzung des AA-Krisenstabes beschlossen worden, diese Sitzung wurde dann im Nachgang auf den 13. August vorgezogen, sagte Sigmund, dies sei nicht zuletzt wegen der Berichte des Gesandten Jan van Thiel aus der deutschen Botschaft in Kabul geschehen. Dieser habe, im Gegensatz zu der Lageeinschätzung des BND, darauf hingewiesen, dass der Fall von Kabul und die komplette Machtübernahme durch die Taliban „kurz bevor stehe“, berichtete Sigmund vor dem Untersuchungsausschuss. Der Darstellung van Thiels habe man vollständig vertraut.

Verlagerung der deutschen Botschaft

Die „äußerst dramatische Situation“, so Sigmund, habe im AA dazu geführt, eine Evakuierung der deutschen Botschaft vorzubereiten. In einem Telefonat von Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) mit seinem US-Amtskollegen Antony Blinken seien sich beide Politiker einig darin gewesen, dass „wir in eine neue Lage eingetreten“ seien, berichtete die Diplomatin. 

Blinken habe zugesagt, die Verlagerung der deutschen Botschaft an den Flughafen in Kabul zu garantieren sowie die Ausreise der Botschaftsangehörigen, der Ortskräfte sowie weiterer „Schutzbefohlener“ zu unterstützen.

Anfertigung von Listen für Ausreisewillige

Sigmund räumte Probleme bei der Erstellung von Listen ausreisewilliger Personen ein deutscher Staatsangehöriger in Afghanistan sowie potenziell gefährdeter Ortskräfte und sonstiger „Schutzbefohlener“ wie Menschenrechtsaktivisten, Anwältinnen oder Journalisten. Es habe zu diesem Zeitpunkt mehrere solcher Listen gegeben, vom AA, vom Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Das AA habe sich bemüht, „ein gewisses Chaos durch mögliche Doppelungen“ dadurch zu verhindern, dass die unterschiedlichen Listen „in einer konsolidierten Liste“ zusammengeführt wurden.

Allerdings sei es schwierig gewesen, durch die unübersichtlichen Zustände vor Ort Personen, die ausreisen wollten, zu erfassen und über eine unmittelbar bevorstehende Evakuierung zu informieren, sagte Sigmund vor dem Ausschuss. Afghanische Stellen seien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr beteiligt worden. Irgendwelche Sicherheitszusagen der Taliban habe man kategorisch als nicht belastbar betrachtet: „Eine Sicherheitsgarantie durch die Taliban war ein Widerspruch in sich“, erklärte Sigmund. Daher habe man sich auf die eigene Verantwortung für Botschaftsangehörige, Ortskräfte und andere „Schutzbefohlene“ verlassen sowie auf die Garantie der Amerikaner, die Evakuierung dieser Personen zum Flughafen sicher zu stellen.

Evakuierung durch Militärmaschinen

Die Verlagerung der Botschaft an den Flughafen in Kabul am 15. August 2021 sei vom AA durch den von Minister Heiko Maas geleiteten Krisenstab begleitet worden. Der ursprüngliche Plan, für den Ausflug eine Art „Charter-Luftbrücke“ zu organisieren, habe sich durch die dramatischen Ereignisse in Kabul zerschlagen. Der Fall von Kabul am 15. August machte es erforderlich, die Evakuierung ausschließlich durch Militärmaschinen durchzuführen, erläuterte Sigmund. 

Berichte über einen angeblichen Versuch einer Privatinitiative (Kabul Luftbrücke), für einen Charter-Flug aus Kabul einbezogen zu werden, konnte Petra Sigmund nicht bestätigen. Insgesamt sei das Problem nicht gewesen, ausreichende Kapazitäten für Ausflüge aus Kabul bereitzustellen, sondern den sicheren Transport von Menschen an den Flughafen zu gewährleisten und die sehr kurze Verweildauer der Maschinen am Flughafen einzuhalten, sagte Sigmund.

„Wir haben die ganze Zeit Dampf gemacht“

Den Vorwurf zivilgesellschaftlicher Organisationen, es seien zu wenig Ausreisemöglichkeiten geschaffen worden, ließ die Zeugin nicht gelten: „Wir haben die ganze Zeit Dampf gemacht, so viele Leute wie möglich raus aus Afghanistan zu bringen.“ Das Problem seien die sich überschlagenden Ereignisse vor Ort gewesen, ab dem Zeitpunkt, da klar war, dass die Amerikaner ihren kompletten Abzug aus dem Land eingeleitet hatten. 

Dabei sei die „Deadline“ durch die Amerikaner von ursprünglich 11. September zunächst auf den 31. August verlegt und dann auf den 25. August vorgezogen worden. Das habe auch die deutschen Evakuierungspläne immer wieder verändert, sagte Sigmund.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. 

Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (gha/11.09.2024)

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