Zeit:
Montag, 2. November 2020,
15 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 600
Die Absicht der Koalitionsfraktionen, die seit 2002 befristet geltenden erweiterten Befugnisse der Nachrichtendienste im Kampf gegen Terrorismus endgültig festzuschreiben, stößt unter Rechtswissenschaftlern und Datenschützern auf Bedenken. In einer Anhörung des Innenausschusses unter Leitung von Andrea Lindholz (CDU/CSU) wiesen am Montag, 2. November 2020, Sachverständige auf zwischenzeitlich ergangene Urteile des Bundesverfassungsgerichts hin, aus denen die Grundgesetzwidrigkeit mehrerer der zur Entfristung vorgesehenen Regelungen klar abzuleiten sei.
Für den Entwurf von CDU/CSU und SPD für ein Gesetz zur Entfristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen (19/23706) sprach sich der Vertreter des Bundeskriminalamts aus. Das nach den Terrorattacken des 11. September 2001 in den USA von der damaligen Bundesregierung geschaffene Terrorismusbekämpfungsgesetz sollte unter anderem die Überwachung der Internet- und Telekommunikation sowie den Austausch von Daten zwischen Nachrichtendiensten und Strafverfolgern erleichtern.
„Verfassungsrechtlich nicht zu halten“
Das Bundesverfassungsgericht habe mittlerweile mehrere der in Rede stehenden Bestimmungen „sturmreif geschossen“, unter anderem durch die Entscheidung vom Mai dieses Jahres, die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes zur Überwachung ausländischer Fernmeldeverkehre zu begrenzen, betonte der Mainzer Professor für Öffentliches Recht Dr. Matthias Bäcker.
Dies gelte insbesondere für die Vorschriften zur Datenübermittlung zum Zweck der Strafverfolgung, die seither verfassungsrechtlich „nicht zu halten“ seien. Es habe keinen Sinn, „punktuell an Mängeln herumzuschustern“, die nur die „Spitze des Eisberges“ darstellten. Dringend erforderlich sei vielmehr eine „verfassungsrechtlich angeleitete Reform“, was bedeute: „Das geltende Recht wegwerfen und neu machen.“
„In der gegenwärtigen Fassung verfassungswidrig“
Im selben Sinne äußerte sich der Kölner Anwalt Dr. Nikolaos Gazeas, der die zur Entfristung vorgesehenen Vorschriften zur Datenübermittlung „in der gegenwärtigen Fassung verfassungswidrig“ nannte. Auch Gazeas wies auf das Karlsruher Urteil vom Mai dieses Jahres hin; der Gesetzgeber dürfe dieses „Verdikt nicht ignorieren“.
Das derzeitige Recht der Nachrichtendienste sei ein „Trümmerhaufen“, sagte Gazeas. Eine Totalreform sei gewiss „kein leichtes Unterfangen“. Jedoch dürften begrenzte „Kapazitäten innerhalb von Ministerien kein Grund sein, verfassungswidrige Zustände weiter aufrechtzuerhalten“.
„Derzeit nicht der richtige Zeitpunkt“
Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Professor Ulrich Kelber, appellierte an das Parlament, die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Aufgabe zu erledigen „statt über die Entfristung einzelner Normen zu diskutieren“. Dafür sei derzeit nicht der richtige Zeitpunkt.
Die Geschäftsführerin des seit 2010 in Berlin wirkenden Vereins „Digitale Gesellschaft“, Dr. Elke Steven, forderte vor jeder weiteren Diskussion über die Verstetigung von Antiterrorbefugnissen eine „Überwachungsgesamtrechnung“ und eine „Freiheitsbestandsanalyse“. Sie beklagte, die Bürger könnten ihre Grundrechte mittlerweile kaum noch wahrnehmen, ohne damit rechnen zu müssen, überwacht zu werden. Steven hinterfragte auch den Begriff des Terrorismus selbst, der ihrer Ansicht nach geeignet sei, Vorbehalte gegen den Islam und Misstrauen gegen Migranten zu schüren.
„Verfassungsrechtlich wie inhaltlich unbedenklich“
Als sowohl verfassungsrechtlich wie inhaltlich unbedenklich bewertete hingegen der Bonner Professor für Öffentliches Recht Dr. Klaus Ferdinand Gärditz den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Auch er betonte, dass es „gute Gründe“ für eine „Gesamtreform“ des Rechts der Nachrichtendienste gebe, doch sei für umfassende Regelungen dieser Art „jetzt nicht die Zeit“.
Gärditz machte geltend, dass die Nachrichtendienste bisher von ihren erweiterten Befugnissen einen lediglich „selektiven“ und keineswegs „extensiven“ Gebrauch machten. So komme es im Durchschnitt etwa 70 Mal im Jahr vor, dass Telekommunikationsanbieter oder andere Dienstleister zu Auskünften gemäß den Bestimmungen des Gesetzes verpflichtet würden. Gemessen an jährlich 10.000 Telefonüberwachungen lasse diese Zahl eine maßvolle Praxis erkennen.
Aus Polizeisicht befürwortete der Vizepräsident des Bundeskriminalamts Jürgen Peter energisch den Entwurf der Bundesregierung. Terrorismus sei heute „aktueller denn je“. Erkenntnisse von Nachrichtendiensten seien auch für die polizeiliche Ermittlungsarbeit und die Strafverfolgung unverzichtbar.
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen
Die Koalitionsfraktionen sehen die aktuellen Herausforderungen insbesondere im Bereich des internationalen Terrorismus und des Rechtsterrorismus, die eine Verstetigung der Befugnisse erfordern, um die Aufklärung schwerer Bedrohungen für unseren demokratischen Rechtsstaat und die freiheitlich demokratische Grundordnung zu gewährleisten (19/23706).
Bisher im Bundesverfassungsschutzgesetz und in weiteren Gesetzen befristete Regelungen sollen dauerhaft festgeschrieben werden. Die bisher befristeten Regelungen des Bundesverfassungsschutzgesetze sollen entfristet werden. Dabei handele es sich insbesondere um Auskunftspflichten von Unternehmen der Branchen Luftverkehr, Finanzdienstleistungen, Telekommunikation und Telemedien zur Netzwerkaufklärung sowie Regelungen zum IMSI-Catcher-Einsatz zur Feststellung genutzter Mobiltelefonnummern und zur Ausschreibung im Schengener Informationssystem zur Nachverfolgung internationaler Bezüge. Der praktische Bedarf für diese Regelungen und ihr angemessener Einsatz sei in wiederholten Evaluierungen bestätigt worden.
Evaluationsbericht der Bundesregierung
Gegenstand der Anhörung war der Evaluationsbericht der Bundesregierung nach Artikel 5 des Gesetzes zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen (19/23350). Darin sieht die Bundesregierung die Bestandsdatenabfrage als wichtige Maßnahme an, um etwa Facebook-Konten, auf denen IS-Flaggen zu sehen waren, zu überprüfen. Der Anstieg der Bestandsdatenabfragen lasse „keinen Schluss auf eine gleichsam flächenmäßige, den Rahmen der Angemessenheit verlassende Nutzung zu, da sich insoweit das Nutzungsverhalten der Betroffenen und die allgemeine Sicherheitslage entscheidend verändert, aber auch die Abläufe des Anordnungsverfahrens im Bundesamt für Verfassungsschutz sich eingespielt haben“, heißt es in der Vorlage weiter.
Die „besonderen Auskunftsverlangen“ seien nach Einschätzung der Nachrichtendienste „ein wichtiges und wertvolles Instrument für die nachrichtendienstliche Arbeit“. Anhaltspunkte, die die Geeignetheit oder Erforderlichkeit der Maßnahmen infrage stellen, ergeben sich laut Regierung aus der empirischen Erhebung nicht. Auch wenn die Zahl der Bestandsdatenabfragen bei Telediensteanbietern erheblich gestiegen sei, bewege sich „die Zahl mit etwa 20 Anordnungen pro Monat deutlich unterhalb eines flächendeckenden Niveaus“. (vom/02.11.2020)