Zeit:
Montag, 26. Oktober 2020,
15.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 700
Die jüngsten Vorschläge der EU-Kommission zur Flüchtlings- und Asylpolitik werden von Experten sehr unterschiedlich bewertet. Dies hat sich in den schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen für eine Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat unter der Leitung von Andrea Lindholz (CDU/CSU) am Montag, 26. Oktober 2020, gezeigt.
Ausgangspunkte der Sitzung waren Anträge der Fraktion Die Linke (19/22125) und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/18680) zur europäischen Flüchtlingspolitik. Während Die Linke „Schutz- und Menschenrechte im europäischen Asylsystem in den Mittelpunkt stellen“ will, treten die Grünen „für einen solidarischen und menschenrechtsbasierten Neuanfang in der Europäischen Flüchtlingspolitik“ ein.
Kritik an Vorschlag der EU-Kommission
Prof. Dr. Gesine Schwan von der Humboldt-Viadrina Governance Platform befand, auch der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission zur Flüchtlings- und Asylpolitik widerspreche den proklamierten Werten der EU und biete keine Chancen dafür, die aktuelle Praxis in dieser Hinsicht zu verbessern. Der Vorschlag verzichte auf einen Weg, wie die geordnete und verlässliche dezentrale Aufnahme von Geflüchteten gestaltet werden kann.
Ein solcher Weg könne nach den Erfahrungen der letzten fünf Jahre nur über eine freiwillige Aufnahme von Geflüchteten mit positiven Anreizen für die aufnehmenden Länder und Kommunen verlaufen. Sie regte dazu einen EU-Fonds an. Sie sehe keine rechtlichen Bedenken, wenn eine „Koalition williger Staaten“ sich zur Aufnahme bereit erkläre und mit ihren jeweiligen aufnahmebereiten Kommunen zusammenarbeite.
„Vertretbarer Aufwand für die deutsche Verwaltungspraxis“
Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Dr. Hans-Eckhard Sommer, bescheinigte den Anträgen der Fraktionen, wichtige Herausforderungen eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zu thematisieren. Insgesamt stellten die Vorschläge der EU-Kommission aus Verwaltungssicht einen guten Bezugspunkt für die Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar.
Allerdings seien noch einige, teilweise auch weitergehende Anpassungen erforderlich, damit diese ohne Qualitätseinbußen und mit vertretbarem Aufwand in die deutsche Verwaltungspraxis übernommen werden könnten.
Überstaatlich vernetzte Migrationspolitik
Prof. Dr. Daniel Thym von der Universität Konstanz strich heraus, dass eine kluge Migrationspolitik überstaatlich vernetzt vorgehen müsse. Das Grundgesetz unterstütze die Suche nach einer europäischen Lösung. Das Migrations- und Asylpaket der EU-Kommission kombiniere staatliche Steuerungsanliegen mit dem flüchtlingsrechtlichen Schutzbedarf. Bei dessen Bewertung solle man sich vor falschen Alternativen hüten.
Es gehe nicht um eine binäre Entscheidung zwischen Schutz oder Kontrolle, sondern um die Kombination von rechtlichen und moralischen Schutzanliegen mit legitimen staatlichen Steuerungsinteressen.
„Kopplung von restriktiven und liberalen Elementen“
Dr. Raphael Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik stellte fest, dass es für strukturelle Lösungsansätze in der Flüchtlings- und Asylpolitik eine effektive Kopplung von restriktiven und liberalen Elementen brauche. Ein erstes greifbares Element dafür sei der Vorschlag der EU-Kommission für einen neuen Krisenmechanismus zur Bewältigung besonders großer oder unvorhergesehener Zuwanderungsbewegungen, der beispielsweise Verfahrensfristen verlängere, aber ebenso neue Schutzmöglichkeiten schaffen wolle.
Wenn es tatsächlich um das Vermeiden einer erneuten Situation wie 2015 gehe, sei dies mindestens so entscheidend wie die derzeit politisch dominante Fokussierung auf verstärkte Rückführungen.
„Grundrechte werden systematisch unterlaufen“
Bernd Kasparek von der Universität Göttingen legte dar, dass der Zugang zum Asylsystem im Süden, Südosten und Osten der EU eingeschränkt sei. Menschen-, völker- und auch europarechtliche Garantien würden in oftmals systematischer Weise unterlaufen. Die EU-Kommission adressiere in ihrem Migrations- und Asylpaket die eklatanten Grundrechtsverletzungen, die sich täglich an Europas Grenzen ereigneten, nicht.
Zwar werde die Wahrung der Grundrechte vielfach angemahnt. Neue oder robuste Mechanismen, um den Grundrechten wieder Geltung zu verschaffen, schlage die Kommission aber nicht vor.
Wider die „Verteilungsdiskussionen“
Dr. Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik machte sich stark für eine weitere Einschränkung der Möglichkeiten, Binnengrenzkontrollen wiedereinzuführen. Grundrechts- und schutzsensible Grenzkontrollen an den Außengrenzen müssten mit einem robusten, unabhängigen Monitoring versehen werden.
Gemeinsame europäische Asylverfahren sollten auf dem Territorium der Mitgliedstaaten und nicht oder nur in Ausnahmefällen in Transitzonen durchgeführt werden. Er setzte sich für ein Ende der Verteilungsdiskussionen ein. Diese Diskussionen müssten durch eine perspektivisch auf gemeinsame Verantwortungsübernahme durch die Mitgliedsstaaten für Schutzgewährung und Rückführung ausgerichtete europäische Asylpolitik abgelöst werden.
Antrag der Linken
Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung in ihrem Antrag (19/22125) auf, sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass die Menschenrechte, das Recht auf Asyl und die Einhaltung des Zurückweisungsverbots „grundlegender Maßstab“ für eine Neuentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und die praktische Asylpolitik sind.
„Eine Politik der Abschottung und Auslagerung des Flüchtlingsschutzes auf Drittstaaten außerhalb der EU ist abzulehnen“, heißt es in der Vorlage weiter. Vielmehr bedürfe es legaler und sicherer Einreisewege für Flüchtlinge in die EU, humanitärer Visa oder die Aufhebung des Visumszwangs für Schutzsuchende, „eine uneingeschränkte Gewährleistung des Familiennachzugs zu international Schutzberechtigten und anderen Schutzbedürftigen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, sowie eine deutliche Ausweitung von Resettlement- und Aufnahmeprogrammen“. Solange es keine legalen und sicheren Einreisewege gebe, bedürfe es einer staatlich-zivilen Seenotrettungsaktion in EU-Verantwortung im Mittelmeer.
Die Grenzschutzagentur Frontex soll nach dem Willen der Fraktion „als Agentur, die die Abschottung der EU und Abschiebungen aus der EU perfektionieren soll“, aufgelöst werden. Auch dringen die Abgeordneten unter anderem darauf, das geltende Dublin-System „grundlegend“ zu verändern. Ausgangspunkt für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates müssten die „berechtigten Wünsche und Interessen der Schutzsuchenden sein“.
Antrag der Grünen
Die Grünen dringen in ihrem Antrag (19/18680) auf einen „grundlegenden Neuanfang in der Europäischen Flüchtlingspolitik“. Entscheidend sei, dass sich die EU-Mitgliedstaaten darauf verständigen, „Schutzsuchende solidarisch zu verteilen, schnelle und faire Verfahren überall in der Union zu gewährleisten und dabei menschen- und flüchtlingsrechtliche Standards zu wahren“, heißt es darin. Bis sich die EU und ihre Mitgliedstaaten auf eine umfassende Reform der Europäischen Flüchtlingspolitik geeinigt haben, müssten vorübergehende Lösungen gesucht und pragmatische Koalitionen eingegangen werden.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich für die Schaffung eines neuen Aufnahme- und Verteilsystems von Asylsuchenden in Europa einzusetzen. Danach sollen Asylsuchende in „offenen und menschenwürdig gestalteten Registrierungszentren“ erkennungsdienstlich behandelt und sicherheitsüberprüft werden. Eine neue „European Union Agency for Asylum“ (EUAA) soll laut Vorlage über den für das jeweilige Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat entscheiden und bei der Verteilung der Asylsuchenden zunächst deren individuellen Bedürfnisse sowie die freiwillig zur Aufnahme bereiten Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Finanzielle Anreize für Aufnahmeländer
Für die Mitgliedstaaten, die sich freiwillig an der Aufnahme von Schutzsuchenden beteiligen, sollen nach dem Willen der Fraktion finanzielle Anreize mit zusätzlichen Mitteln aus einem eigenen EU-Fonds geschaffen werden. Wenn nicht genügend freiwillige Aufnahmeplätze zur Verfügung stehen, müsse ein „verbindlicher, alle EU-Mitgliedstaaten umfassender Verteilmechanismus greifen“.
Ferner fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, sich gegenüber der EU-Kommission und den europäischen Ratsgremien dafür einzusetzen, „dass es einen deutlichen Aufwuchs von Resettlementplätzen gibt und dass die aufgrund der Corona-Pandemie 2020 gegebenenfalls nicht ausgeschöpften Kontingente in das kommende Jahr übertragen werden“. Ebenso soll sich die Bundesregierung für eine Verteilung von aus Seenot geretteten Menschen gemäß dem vorgeschlagenen Verteilmechanismus sowie für eine „europäisch koordinierte und finanzierte zivile Seenotrettung im Mittelmeer“ einsetzen. (fla/26.10.2020)