Maaßen: Anis Amri war aus unserer Sicht ein Polizeifall
Der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Dr. Hans-Georg Maaßen hat bekräftigt, dass seine Behörde mit dem Fall des islamistischen Attentäters Anis Amris nicht federführend befasst war. Vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Leitung von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) übte er am Donnerstag, 8. Oktober 2020, zugleich scharfe Kritik am Umgang von Ausländerbehörden, Justiz und Politik mit dem längst als multikriminell aufgefallenen Amri. „Für mich ist es völlig unverständlich, dass ein Amri mit dieser Biografie sich am 19. Dezember 2016 in Deutschland aufgehalten hat. Der Anschlag hätte nicht stattfinden müssen. Er war vermeidbar. Das ist die besondere Tragik“, sagte Maaßen, der den Verfassungsschutz von 2012 bis 2018 geleitet hatte.
„Amri war kein besonders brisanter Gefährder“
Mit Nachdruck wies Maaßen den Vorwurf zurück, die Öffentlichkeit angelogen zu haben, als er in einem Interview im März 2017 von einem „Polizeifall Amri“ sprach und erklärte, der Verfassungsschutz habe in dessen „Umfeld“ über keine Quelle verfügt. „Anis Amri war aus unserer Sicht ein Polizeifall gewesen. Es war ein Fall in der federführenden Zuständigkeit der Polizeibehörden“, sagte er. Nach Einschätzung seiner Behörde sei Amri zudem „kein besonders brisanter Gefährder“ gewesen, schon gar nicht der „Mega-Gefährder“, den die Medien nach dem Anschlag aus ihm gemacht hätten.
Maaßen erinnerte daran, dass er bereits in einer Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremium am 29. Januar 2017 die polizeiliche Zuständigkeit für die Bearbeitung Amris hervorgehoben haben. Selbstverständlich habe der Verfassungsschutz „auch eine Rolle gespielt“, freilich eine „sehr begrenzte“. Das Bundesamt habe „zu keinem Zeitpunkt verschwiegen, dass es beteiligt war“, betonte Maaßen. Ebenfalls im Parlamentarischen Kontrollgremium habe er damals auch offengelegt, dass der Verfassungsschutz in der Berliner Fussilet-Moschee, wo Amri ein und aus ging, über einen V-Mann verfügte. Dieser sei dort allerdings nicht zur Beobachtung Amris, sondern „zur Aufklärung eines anderen Sachverhalts“ eingesetzt gewesen.
„Entscheidende Verfassungsschutz-Fehler nicht zu erkennen“
Dreimal seien dem Informanten im Februar und Juni 2016 Fotos Amris vorgelegt worden, ohne dass er diesen erkannt habe. Er habe „überzeugend klargestellt“, kein „persönliches Kennverhältnis“ zu Amri zu unterhalten. In der Fussilet-Moschee hätten sich bis zu 80 Personen gleichzeitig aufgehalten. Da könne nicht jeder mit jedem in persönlichen Kontakt geraten: „Die Quelle konnte zum Attentat Amris keine Informationen sammeln und so den Anschlag verhindern.“
Rückblickend könne er nicht erkennen, dass der Verfassungsschutz 2016 im Umgang mit Amri entscheidende Fehler begangen hätte, betonte Maaßen: „Ich denke dass unter den damaligen Bedingungen wir als Amt gute Arbeit geleistet haben. Die Mitarbeiter haben sich damals sehr professionell verhalten und mit sehr hohem persönlichen Engagement. Die habe es wirklich gut gemacht, und die haben ihr Bestes gegeben.“
„Spielräume im Umgang mit Amri wurden nicht ausgeschöpft“
Versäumnisse hat es aus Maaßens Sicht durchaus an anderer Stelle gegeben, wo die rechtlichen, insbesondere asyl- und ausländerrechtlichen, Spielräume im Umgang mit Amri in keiner Weise ausgeschöpft worden seien.
Wie habe es sein können, dass Amri bei seiner Einreise aus einem sicheren europäischen Drittland nicht „unverzüglich“ zurückgeschoben worden sei? Dass er trotz etlicher Falschidentitäten und etlicher Straftaten nicht in Abschiebehaft gekommen sei? Dass seine Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt worden und ihm die Benutzung eines Mobiltelefons nicht untersagt worden sei, wozu es gegenüber dem ausreisepflichtigen Tunesier Amri eine Handhabe gegeben hätte? Warum habe die Bundesregierung nicht massiven politischen Druck auf Tunesien ausgeübt, um Amri loszuwerden?
„Flüchtlingspolitik erhöhte Sicherheitsrisiken deutlich“
Zur allgemeinen Gefährdung durch islamistischen Terrorismus in den Jahren 2015 und 2016 sagte Maaßen, eine „deutliche Erhöhung der Sicherheitsrisiken“ habe die damalige Flüchtlingspolitik mit sich gebracht. Der Verfassungsschutz habe 20 Personen identifiziert, die „mit einem konkreten Terrorauftrag“ des sogenannten Islamischen Staates auf den Flüchtlingsrouten nach Deutschland gelangt seien.
Wenn bei einer „ungebremsten und ungesteuerten Zuwanderung junger Männer“ auf Identitätsprüfungen verzichtet und auch falsche Angaben zur Person hingenommen würden, so werde dadurch die Bildung eines „Reservoirs“ für die Rekrutierung islamistischer Attentäter begünstigt. So sei 2016 das islamistisch-terroristische Potenzial auf 1.600 Personen angestiegen, die Zahl der polizeibekannten Gefährder zwischen 2012 und 2016 von 123 auf 584 angewachsen, die Zahl der ermittelten Anschlagsplanungen habe sich im selben Zeitraum auf 233 verdoppelt. (wid/08.10.2020)
Liste der geladenen Zeugen
- Dr. Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz
- Katharina Fest, Landesamt für Verfassungsschutz Berlin
- R. H., Regierungsdirektor, Berliner Landesamt für Verfassungsschutz