Bundestag stärkt Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs
Der Bundestag hat die Errichtung einer Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft beschlossen. Das Zentrum soll die historischen Zusammenhänge vermitteln, über das geschehene Leid in Europa und Deutschland aufklären und den Nachkommen der Opfer Raum für Gedenken und Erinnerung geben. Den entsprechenden Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD (19/23126) verabschiedete das Parlament am Freitag, 9. Oktober 2020, ohne Gegenstimmen. Lediglich die AfD-Fraktion enthielt sich der Stimme.
Zugleich lehnte der Bundestag einen in weiten Teilen wortgleichen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19/23161) mit der Stimmenmehrheit der Koalition ab. Während die Opposition eine Überweisung der Anträge in den Ausschuss für Kultur und Medien verlangt hatte, bestanden Union und Sozialdemokraten auf sofortiger Abstimmung der Anträge mit den gleichlautenden Titeln „Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs stärken und bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus anerkennen“.
CDU/CSU: Es droht das Vergessen
Gitta Connemann (CDU/CSU) verwies darauf, dass die Generation der Zeitzeugen aussterbe: „Es droht das Vergessen.“ Wie wichtig Zeitzeugen und ihre hinterlassenen Zeugnisse seien, zeige das Beispiel des Tagesbuchs der Anne Frank. Deshalb brauche Deutschland ein solches Dokumentationszentrum.
Connemann argumentierte, dass trotz der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen verschiedene Opfergruppen noch immer nicht eine angemessene Anerkennung gefunden hätten. Auch das Leid in vielen durch Deutschland besetzten Ländern sei nicht ausreichend bekannt. Connemann erinnerte daran, dass die Ukraine ein Viertel seiner Bevölkerung verloren habe und in Griechenland 360.000 Menschen durch die deutsche „Hungerstrategie“ gestorben seien.
AfD: Ausdruck eines „Sündenstolzes der Deutschen“
Marc Jongen (AfD) erklärte, seine Fraktion könne angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen zwar nicht gegen den Antrag stimmen, aber wegen dessen Subtextes auch nicht für ihn stimmen. Der Antrag sei Ausdruck eines „Sündenstolzes der Deutschen“ und eines „hypermoralischen Büßertums“.
Jongen berief sich dabei unter anderem auf den Publizisten Henrik M. Broder, der diese Art des „deutschen Erinnerungswahns“ kritisiert habe.
SPD: Einen „Ort des Dialogs“ schaffen
Marianne Schieder (SPD) hielt der AfD entgegen, ihre Haltung sei „inakzeptabel“. Um so wichtiger sei es, mit dem Dokumentationszentrum einen „Ort des Dialogs“ zu schaffen und der „populistischen Instrumentalisierung von Geschichte“ entgegenzutreten. Die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges dürften nicht in Vergessenheit geraten, damit sie sich nicht wiederholen.
Zur Realisierung des Dokumentationszentrums werde eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern eingesetzt, um ein Konzept zu erarbeiten. Dabei werde auf die Expertise der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas zurückgegriffen und das Gedenkstättenkonzept des Bundes berücksichtigt.
FDP: Erinnerungskultur darf nie „Ablasshandel“ werden
Thomas Hacker (FDP) führte aus, dass jede Generation erneut die Lehren aus der Vergangenheit ziehen müsse. Erinnerungskultur dürfe nie zu einer Art „Ablasshandel“ werden. Deshalb sei die Errichtung des Dokumentationszentrums der richtige Weg. Dieses werde für „unsere Zukunft“ errichtet. Es sei beschämend, dass deutsche Juden erneut Angst haben müssten im eigenen Land.
Hacker monierte allerdings, dass die Koalitionsfraktionen nicht bereit gewesen seien, den Antrag mit den anderen demokratischen Fraktionen gemeinsam zu erarbeiten. „Diese Chance haben Sie vertan“, sagte er in Richtung von CDU/CSU und SPD.
Grüne: Dem Leid der Opfer gerecht werden
Dieser Kritik schloss sich auch Erhard Grundl (Bündnis 90/Die Grünen) an. Das Verhalten der Koalition sei an dieser Stelle „kleingeistig“. Mit Blick auf die AfD-Fraktion sagte Grundl, mit den Grünen werde es keinen „Schlussstrich“ unter der Aufarbeitung der deutschen Verbrechen geben.
Deutschland sei eben nicht der „Musterknabe der Aufarbeitung“, solange „Brandstifter“ in den Reihen des Bundestages sitzen. Das Dokumentationszentrum solle einen Beitrag leisten, um allen Opfern des Nationalsozialismus und ihrem Leid gerecht zu werden.
Linke: Geschichtspolitischer Meilenstein
Jan Korte (Die Linke) lobte den Antrag der Koalition ausdrücklich. Dieser sei ein „geschichtspolitischer Meilenstein“. Er sei auch Ausdruck einer 60-jährigen geschichtspolitischen Debatte. Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen sei eben nicht die Erfolgsgeschichte, als die sie immer hingestellt werde. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit habe „im Land der Täter“ mühsam erkämpft werden müssen.
Korte erinnerte in diesem Zusammenhang an die umstrittene Wehrmachtsausstellung in den 1990er-Jahren. Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) habe es den Soldaten der Bundeswehr verboten, die Ausstellung über die Verstrickung der Wehrmacht in die NS-Verbrechen zu besuchen. (aw/09.10.2020)