Verfassungsschützer: Amri kein „reiner Polizeifall“
Ein ranghoher Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hat vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) die Auffassung bekräftigt, dass seine Behörde vor dem islamistischen Anschlag an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem späteren Attentäter Anis Amri nur am Rande befasst gewesen sei. „Aus meiner Perspektive hat es sich um einen Sachverhalt in polizeilicher Zuständigkeit gehandelt“, sagte der Leitende Regierungsdirektor Gilbert Siebertz am Donnerstag, 1. Oktober 2020, in einer öffentliche Vernehmung unter Vorsitz des Abgeordneten Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Der heute 53-jährige Zeuge ist seit Anfang 2015 in der mit der Abwehr radikalislamischer Bestrebungen betrauten Abteilung 6 tätig, wo er im Juni 2020 in den Rang eines Abteilungsleiters aufstieg. Vor dem Ausschuss hatte er bereits am 27. September 2018 öffentlich und nichtöffentlich ausgesagt.
Den Satz, Amri sei ein „reiner Polizeifall“ gewesen, würde er allerdings heute „so nicht mehr verwenden“, weil er „missverständlich“ sei, betonte der Zeuge. Der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Dr. Hans-Georg Maaßen, hatte diese Formulierung Anfang 2017 geprägt. Siebertz selbst hatte sie, wie er am Donnerstag erinnerte, in seiner vorherigen Vernehmung durch den Ausschuss mehrfach benutzt.
Informanten im Salafistenkreis
Dass die Federführung bei der Polizei gelegen habe, habe freilich den Verfassungsschutz nicht davon abhalten können, sich „im Bereich unserer eigenen Zuständigkeit“ ebenfalls mit Amri zu beschäftigen: „Wo möglich, hätten wir den Polizeibehörden zugearbeitet.“ Dies sei vor dem Attentat allerdings nie der Fall gewesen, weil der Verfassungsschutz damals über keine Erkenntnisse verfügt habe, die über den polizeilichen Wissenstand hinausgegangen wären: „Dass wir uns operativ mit Amri beschäftigt haben, habe ich nie bestritten. Die Zuständigkeit lag aber bei der Polizei.“
In der Überzeugung, dass Amri dort in guten Händen war, habe er auch keine Notwendigkeit gesehen, einen V-Mann seiner Behörde in der Moabiter Fussilet-Moschee, wo Amri aus und ein ging, gezielt an diesen „heranzusteuern“, sagte der Zeuge weiter. Der Informant habe im Salafistenkreis um die Fussilet-Moschee mit Amri keine persönliche Berührung gehabt, ihn auf einem Foto nicht einmal erkannt. Spätestens seit Anfang 2016 habe der Verfassungsschutz gewusst, dass das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt Amri von einem hoch effizienten V-Mann bearbeiten ließ: „Wir haben einen Sachverhalt in polizeilicher Zuständigkeit, wo eine VP dran ist, die die dollsten Sachen erzählt. Warum sollte ich in dem Zusammenhang meine VP an ihn heransteuern?“
Informationsabgleich mit Marokko
Durch Hinweise, die der Informant des Düsseldorfer Landeskriminalamts beschafft hatte, war Anfang 2016 bekannt geworden, dass Amri damals angeblich Schnellfeuergewehre der Marke AK47 in Frankreich oder Italien erwerben wollte: „Natürlich waren wir zu dem Zeitpunkt auch der Meinung, dass das einen gefährliche Person ist, und diesem Sachverhalt nachzugehen ist. Dass wir es hier mit einem Gefährdungssachverhalt zu tun haben, den man ernst nehmen muss, sehr ernst nehmen muss.“
Insofern seien auch Mutmaßungen über terroristische Absichten Amris, die der marokkanische Geheimdienst im September und Oktober 2016 deutschen Behörden in vier Schreiben hatte zukommen lassen, „nichts Neues“ gewesen. Ohnehin habe es sich nicht um konkrete Warnungen vor einem bevorstehenden Anschlag gehandelt. Die Marokkaner hätten offenbar Erkenntnisse über eigene Staatsbürger mit Wissensstand deutscher Behörde abgleichen wollen.
Missverständliche Formulierung im Protokoll
Im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden übernahm es damals der Verfassungsschutz, den Hinweisen nachzugehen. Der Zeuge gab die Ansicht zu erkennen, dass dieser Auftrag bei seiner Behörde an der falschen Adresse gewesen sei. Womöglich handele es sich um eine nachträglich nicht ausgeräumte missverständliche Formulierung im Protokoll.
Der Verfassungsschutz sprach einen „potenteren“ befreundeten Nachrichtendienst auf die Sache an, ohne die Herkunft der Informationen aus Marokko zu nennen. Er habe lediglich den eigenen Wissensstand zusammengefasst und gefragt, ob es weitergehende Erkenntnisse gebe. Eine Antwort traf erst nach dem Berliner Anschlag ein.
BfV-Spitze hatte Amri nicht auf dem Schirm
Der Führungsebene des BfV ist der Name des Attentäters Anis Amri erst nach dem Anschlag an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bekannt geworden, obwohl der Mann seit Langem als Gefährder gelistet war. Der Leiter der für Islamismus und islamistischen Terrorismus zuständigen Abteilung 6, Dr. Klaus Rogner, sagte nach seiner Erinnerung sei er in den wöchentlichen Runden der ihm untergebenen Referatsgruppenleiter kein einziges Mal auf Amri angesprochen worden. Der heute 54-jährige Zeuge steht seit 2011 an der Spitze der Abteilung, in der er zuvor seit 2008 als Referatsgruppenleiter tätig war.
Auch der damalige Präsident des Bundesamtes Hans-Georg Maaßen hatte Amri nach dem Eindruck des Zeugen offenbar nicht auf dem Schirm. Rogner berichtete, Maaßen habe ihn nach dem Anschlag angerufen und gefragt: „Wer ist das? Kennt ihr den?“ Er habe es „geliebt, seine Abteilungsleiter mit Detailfragen zu überziehen“, zumal, wenn sie ihm öffentlichkeitswirksam erschienen seien. Ähnlich wie der damalige Behördenchef, sagte der Zeuge, habe er freilich auch selber reagiert, als ihn während der Rekonvaleszenz von einer schweren Krankheit ein Mitarbeiter telefonisch über die Identität des Täters informiert habe: „Wer ist Anis Amri? Keine Ahnung.“
Zunahme islamisch-fundamentalistischer Salafisten
In den Referatsgruppenleiter-Runden seiner Abteilung kämen Sachverhalte zur Sprache, die nach dem Urteil der Untergebenen gewichtig genug seien, dass sie zu seiner Kenntnis gelangen mussten oder gar sein Eingreifen erforderten. So sei Amris Name ihm erst nach dem Anschlag bekannt geworden. Zuvor sei die Sache für die damit befassten Sachbearbeiter offenbar „von keiner Wertigkeit dergestalt“ gewesen, „dass sie zu mir vorgedrungen ist“.
An das Jahr 2016, das mit den islamistischen Attentaten in Brüssel begann und mit Amris Anschlag in Berlin zu Ende ging, erinnerte sich der Zeuge als „die größte Herausforderung meiner bisherigen beruflichen Tätigkeit“. Dies habe an einem „nicht enden wollenden Aufkommen von Hinweisen auf Anschlagsplanungen“ gelegen. Die islamistische Bedrohung habe stetig zugenommen. Die Zahl islamisch-fundamentalistischer Salafisten, die zwar nicht durchweg gewalttätig, für terroristische Versuchungen aber besonders anfällig seien, habe sich in Deutschland von 7.000 im Jahr 2014 auf 12.000 nach heutigem Stand erhöht.
Zeuge: Hoch volatile, kaum berechenbare Klientel
Die Gruppe der Gefährder, der „Personen aus dem islamistisch-terroristischen Personenpotential“ in der Terminologie des Verfassungsschutzes, sei seit 2016 von 1.500 auf 2.200 angewachsen. Es handele sich um eine „hoch volatile, kaum berechenbare“ Klientel. Hier werde „trotz umfassender Anstrengungen eine vollständige Überwachung“ nie gelingen. Seit 2014 habe der Verfassungsschutz seine Fähigkeit in der Abwehr des Islamismus ausgebaut, neue Planstellen geschaffen, Strukturen verändert. Dennoch: „Eine letzte Gewähr, jeden Anschlagsplan rechtzeitig zu erkennen, gibt es nicht.“
So könne er rückblickend auch keinen Anhaltspunkt erkennen, was der Verfassungsschutz im Fall Amri anders hätte machen oder entscheiden müssen, welche Fehler durch Tun oder Unterlassen begangen wurden. Ähnlich hatte sich zuvor Rogners Kollege Gilbert Siebertz vor dem Ausschuss ausgedrückt. Er empfinde Amris Anschlag als „persönliche Niederlage“, so Siebertz: „Da hätte man noch mehr machen können. Ich sehe aber nicht, was das BfV mehr hätte machen können.“ (wid/01.10.2020)
Liste der geladenen Zeugen
- Gilbert Siebertz, Leitender Regierungsdirektor, Bundesamt für Verfassungsschutz
- Dr. Klaus Rogner, Direktor beim Bundesamt für Verfassungsschutz
- D. K., Bundesnachrichtendienst
- M. Z., Bundesnachrichtendienst