Experten bewerten die Lage der Menschenrechte im digitalen Raum
Die Digitalisierung bietet für Menschenrechte und politische Teilhabe Chancen, birgt aber große Herausforderungen und Gefahren. In dieser Einschätzung stimmten die Sachverständigen in der Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum Thema „Menschenrechte und politische Teilhabe im digitalen Zeitalter“ am Mittwoch, 17. Juni 2020, überein.
Von welchen digitalen Instrumenten aber die größte Bedrohung ausgeht und wie Menschenrechte besser im digitalen Raum geschützt werden können, dazu variierten die Ansichten der geladenen sieben Experten in der von Gyde Jensen (FDP) geleiteten Sitzung deutlich.
Menschenrechte gelten „online wie offline“
Dr. Matthias C. Kettemann vom Leibniz-Institut-für Medienforschung in Hamburg betonte, dass ganz grundsätzlich „alle Menschenrechte online wie offline“ gelten. Mit einem Unterschied: Um Menschenrechte online auszuüben, gebe es eine Voraussetzung – einen Internetzugang. Staaten seien daher gefordert, allen Menschen einen „menschenrechtskonformen Zugang“ zu ermöglichen und „ganz konkrete Infrastrukturmaßnahmen“ zu tätigen, mahnte der Rechtswissenschaftler mit Blick auf Deutschland.
Zudem brauche es mehr Daten zur Internetnutzung und zu Diskriminierungen in der Internetnutzung. Ziel müsse sein, zu verhindern, dass das Netz zu einem „Ausgrenzungssystem“ werde. Verletzliche Gruppen dürften nicht genauso verdrängt werden, wie im öffentlichen Diskurs in der „Offline-Welt“. Um Menschenrechte im Internet zu wahren – etwa das Recht auf Privatheit – brauche es angepasste Gesetze. „Ein Darknet-Gesetz ginge in die falsche Richtung“, stellte Kettemann klar.
Darknet ist auch ein Schutzraum vor Repressionen
Diese Meinung vertrat auch Dr. Constanze Kurz vom Chaos Computer Club (CCC). Sie wies darauf hin, dass der Begriff „Darknet“ in Deutschland als Ort von Kriminalität „sehr negativ belegt“ sei. Aber in vielen Ländern außerhalb Europas stelle die „auch von westlichen Staaten zur Verfügung gestellte Infrastruktur“ des Darknets die einzige Möglichkeit dar, anonymisiert zu kommunizieren oder Informationen ins Netz zu stellen, ohne mit Repressionen rechnen zu müssen, gab die Informatikerin und Sprecherin des CCC zu Bedenken.
Die Möglichkeit, verschlüsselt Informationen zu teilen, nutzen zunehmend auch private Social Media-Unternehmen wie Facebook oder öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten wie die britische BBC: Sie stellten Medienangebote ins Darknet, damit diese auch von Menschen in diktatorischen Staaten genutzt werden können.
Regeln für Gesichtserkennungssoftware gefordert
Zara Rahman, The Engine Room, führte in ihrer Stellungnahme aus, dass nicht nur Diktaturen, sondern auch Demokratien diverse Strategien verfolgten, um mithilfe digitaler Technik Menschenrechte zu verletzen. Als Beispiele nannte sie Social-Credit-Scoring oder die Massenüberwachung über „Meta- und Telekommunikationsinhaltdaten“. Als eine „besonders beunruhigende Form“ einer Überwachungstechnologie bezeichnete die stellvertretende Direktorin der Non-Profit-Organisation die biometrische Gesichtserkennung.
Problematisch sei auch, dass es in den meisten Ländern bislang keine Gesetze zu ihrem Einsatz gebe, die deren Gefahrenpotenzial ausreichend in Betracht zögen. Dass sich nun amerikanische Unternehmen wie IBM aus dem Geschäft mit Gesichtserkennungssoftware zurückzögen, sei gut. Doch noch besser wäre es, wenn die Politik endlich Regeln für den Umgang mit diesen Technologien aufstellte, forderte Rahman.
Wirksame Exportkontrollen für Überwachungssoftware
Lena Rohrbach, Referentin für Digitalisierung, Wirtschaft und Rüstungskontrolle bei Amnesty International, ging noch einen Schritt weiter: Sie drängte auf ein „Verbot der Verwendung, Entwicklung, des Verkaufs und Exports von Gesichtserkennungssoftware zur Identifikation im öffentlichen Raum.“ Insgesamt äußerte sich Rohrbach besorgt über die zunehmend kleineren Spielräume für Menschenrechtsverteidiger weltweit.
„Amnesty beobachtet die Entwicklung einer Art Instrumentenkasten digitaler Methoden und Techniken, die Regierungen gegen Zivilgesellschaften einsetzen“, sagte sie. Dazu gehörten Internet-Shutdowns, Zensur von Webseiten und Social-Media-Plattformen, sogenannte Cyber-Crime-Gesetze, das Kriminalisieren von Verschlüsselungswerkzeugen und Massenüberwachung. Die nötige Spionagesoftware stamme nicht selten aus Deutschland und Europa, monierte Rohrbach. Deutschland müsse sich deshalb auf europäischer Ebene für eine bessere Exportkontrolle stark machen, so der Appell der Amnesty-Referentin.
Menschenrechtliche Maßstäben in Europa
Nighat Dad, geschäftsführende Direktorin der Digital-Rights-Foundation in Pakistan, lenkte den Blick auf die Lage in Südostasien. Hier seien bürgerliche Freiheiten nicht nur bedroht durch regressive Gesetze, sondern zunehmend auch durch den Einsatz von Überwachungstechnologien.
Dennoch verwahrte sich die Sachverständige gegen einseitige Kritik: Der globale Süden werde oft angeprangert, aber auch europäische Länder würden ihren Maßstäben nicht gerecht, sagte Dad etwa mit Blick auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Dieses habe ein „Übermaß an staatlicher Macht und Regulierungsbefugnissen ermöglicht, die unter Umständen missbräuchlich gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung eingesetzt werden könnten.“
Meinungsfreiheit in der digitalen Wirklichkeit
Diese Ansicht vertrat auch der Medienanwalt Joachim Nikolaus Steinhöfel: Er wies auf die große Bedeutung der Meinungsfreiheit „als die freiheitliche Grundordnung konstituierendes“ Grundrecht hin und kritisierte jede Einschränkung wie etwa durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz als verfassungswidrigen Eingriff.
„Das Anliegen verfassungsfeindliche Ansichten zu verhindern, ist ebenso wenig ein Grund Meinungen zu beschränken wie deren Wertlosigkeit oder Gefährlichkeit“, zitierte Steinhöfel aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2018. „Es steht die fundamentale Frage im Raum, wer in einer offenen Gesellschaft legitimer Weise über wahre und falsche Meldungen entscheidet.“ Jedoch erkannte der Rechtsanwalt auch an, dass die Gewährleistung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung in einer neuen digitalen Wirklichkeit „eine schwierige und komplexe Herausforderung für den Gesetzgeber“ sei.
China als digitales Labor
Dr. Kristin Shi-Kupfer, Mercator Institute for China Studies, verwies auf das Beispiel China: Die Lage dort zeige, wie wichtig die Verknüpfung von digitalen Technologien, Menschenrechten und politischer Teilhabe sei. „China ist aus Sicht seiner Regierung ein digitales Labor – und damit ein sehr lehrreiches Schaufenster für all den Missbrauch und die Bedrohung die von digitalen Technologien ausgehen können.“
China propagiere beim Einsatz digitaler Technik vor allem das Argument „größerer Effektivität“ etwa bei der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung. Doch beim Ausbau der Überwachungskapazitäten auch im öffentlichen Raum gerieten gerade kritische Köpfe wie Rechtsanwälte und Journalisten schnell ins Visier. Shi-Kupfer warnte vor einer zunehmend systematischen Manipulation der internationalen öffentlichen Meinung durch China. Auch der Druck auf ausländische Unternehmen, Zensurmöglichkeiten einzubauen, werde künftig wachsen. (sas/18.06.2020)
Liste der Sachverständigen
- Nighat Dad, Executive-Director der Digital-Rights-Foundation in Pakistan
- Privatdozent Dr. Matthias C. Kettemann, Leibniz-Institut für Medienforschung, Hans-Bredow-Institut
- Dr. Constanze Kurz, Chaos Computer Club
- Zara Rahman, stellvertretende Direktorin bei The Engine Room
- Lena Rohrbach, Referentin für Digitalisierung, Wirtschaft und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International
- Dr. Kristin Shi-Kupfer, Mercator Institute for China Studies
- Joachim Nikolaus Steinhöfel, Rechtsanwalt