Kanzlerin will EU-Ratspräsidentschaft für Reformen nutzen
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) will die Bewältigung der Corona-Pandemie in den Mittelpunkt der am 1. Juli 2020 beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft stellen und die Krise zugleich für wichtige Reformen in der Europäischen Union nutzen. Die Pandemie stelle die größte Herausforderung in der Geschichte der EU dar und habe die Verwundbarkeit des europäischen Projekts offengelegt, sagte sie am Donnerstag, 18. Juni 2020, in einer 20-minütigen Regierungserklärung vor dem Bundestag. Zusammenhalt und Solidarität in Europa seien daher noch nie so wichtig gewesen wie heute.
Regierung unterstützt Wiederaufbaufonds
Merkel betonte, sie wolle sich auf dem Europäischen Rat am 19. Juni für eine schnelle Einigung beim mehrjährigen EU-Haushalt von 2021 bis 2027 sowie dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Wiederaufbaufonds einsetzen. Wichtig sei dabei, dass die Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie „keine Rückkehr zum herkömmlichen Arbeiten und Wirtschaften“ bedeuteten.
Es gehe darum, „Lehren aus der Krise zu ziehen“ und etwa in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung sowie der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik voranzugehen.
Debatte betont Chance für Erneuerung Europas
In der anschließenden Aussprache forderte auch die Mehrheit der Fraktionen, die Corona-Krise als Chance für eine Erneuerung Europas zu nutzen. So sprach Martin Schulz (SPD) von einem „europäischen Moment“, den die EU für „große Weichenstellungen“ nutzen sollte. Die Bundesregierung sollte während ihrer Ratspräsidentschaft alles tun, um den geplanten 750 Milliarden-Fonds der Kommission durchzusetzen und die EU zu einer echten Solidarunion umzubauen. Digitalkonzerne müssten besteuert, die Klimapolitik beherzt angepackt, soziale Mindestsicherungssysteme sowie eine Arbeitslosenrückversicherung eingeführt und mehr Souveränität nach Brüssel übertragen werden, forderte Schulz.
Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) bezeichnete die deutsche Ratspräsidentschaft als „großartige Gelegenheit“ nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für die Parlamente. Die Bundestagsabgeordneten seien nicht Botschafter dessen, was in Brüssel beschlossen werde, sondern „Bestandteil des Entscheidungsprozesses, wie dieses Europa gestaltet wird“, sagte er. Es gehe um eine „Renaissance“ Europas, die nicht nur die Überwindung der Corona-Pandemie, den EU-Finanzrahmen oder den Klimawandel umfassen sollte, sondern unter anderem auch um ein gemeinsames Konzept zur Bewältigung der Migrationsfrage. Wichtig sei bei alldem, dass Konsumausgaben in der Gegenwart nicht auf nachfolgende Generationen verlagert würden.
FDP fordert konkrete Reformzusagen
Von einer „großen Chance“ für Europa und einer besonderen Verantwortung für die deutsche Ratspräsidentschaft sprach auch FDP-Fraktionschef Christian Lindner. Letztere sollte „nicht eine der neuen Schulden gewesen sein, sondern eine der neuen Arbeitsplätze“.
Die Mittelvergabe müsse an konkrete Reformzusagen geknüpft werden, Strukturdefizite beheben und einen breiteren Wachstumspfad ermöglichen. Es dürfe beim Wiederaufbau nicht darum gehen, den Zustand von vor Corona wieder herzustellen. „Die Ambition muss größer sein“, betonte Lindner.
Linke will mehr Solidarität in der EU
Amira Mohamed Ali, Co-Fraktionschefin der Linken, forderte die Bundesregierung auf, während der EU-Ratspräsidentschaft für mehr Gerechtigkeit und Solidarität in Europa zu sorgen. Die Corona-Krise treffe die Ärmsten am härtesten, sagte sie. Große Konzerne wie Amazon profitierten teils von der Krise, würden aber nicht zur Kasse gebeten. Über eine Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre werde nicht gesprochen.
„Nach ihren Konzepten werden am Ende die Kosten der Krise von den Familien, den Arbeitnehmerinnen, den Rentnern in Paris, Rom und Berlin bezahlt werden.“ Merkel habe nun die Chance, „die richtigen Weichen zu stellen“ für ein Europa, in dem „nicht soziale Spaltung, Aufrüstung und Abschottung ganz oben stehen, sondern Solidarität, Nachhaltigkeit, soziale Sicherheit und Frieden für alle“.
Grüne fordern Klimapräsidentschaft
Nach Ansicht der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sollte die Bundesregierung die Ratspräsidentschaft zur Klimapräsidentschaft machen. Konkret solle sie sich für ein Klimaschutzziel 2030 von 65 Prozent weniger Treibhausgasen in der EU im Vergleich zu 1990 einsetzen sowie für jährliche Emissionsbudgets und eine gemeinsame nachhaltige Landwirtschaftspolitik.
„Es ist an Ihnen, ob die Milliarden in eine krisenfeste EU und Zukunft für unsere Kinder investiert werden“, sagte Göring-Eckardt in Richtung der Kanzlerin.
AfD warnt vor enormen Finanzlasten
Eine Gegenposition nahm die AfD ein. Deren Co-Fraktionschefin Dr. Alice Weidel sieht „enorme Lasten“ auf die deutschen Steuerzahler zukommen, etwa durch die Aufstockung des „Pandemieanleiheaufkaufprogramms“ der Europäischen Zentralbank (EZB) auf 1.350 Milliarden Euro. Die AfD werde dagegen klagen, kündigte sie an. Die Corona-Krise müsse letztlich als Grund für quasi riesige rechtswidrige Zahlungen und die Vergemeinschaftung von Schulden herhalten, urteilte Weidel.
Merkel warf sie vor, den Bürgern über die tatsächlichen Zahlungen Deutschlands an die EU keinen reinen Wein einzuschenken. „Deutschland hat genügend eigene Probleme“, sagte sie mit Verweis auf eine „nie da gewesene Arbeitslosigkeit“ und Unternehmenspleiten, es habe keine Milliarden zu verschenken. Die Bundesregierung forderte sie auf, den Lockdown vollständig zu beenden und Steuern und Abgaben deutlich zu senken, damit die deutschen Arbeitnehmer wieder Luft zum Atmen hätten.
Abgelehnte Entschließungsanträge
Im Anschluss an die Aussprache hat der Bundestag vier Entschließungsanträge der Opposition zur Regierungserklärung abgelehnt. Gegen den ersten Entschließungsantrag der FDP-Fraktion (19/20131) stimmte die Mehrheit des Hauses gegen die Stimmen der Antragsteller bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Abgelehnt wurde von der Mehrheit des Hauses gegen die Antragsteller auch der zweite FDP-Entschließungsantrag (19/20132). Gegen den Entschließungsantrag der Linksfraktion (19/20133) stimmte die Mehrheit der Fraktionen im Parlament gegen die Antragsteller. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen (19/20134) wurde ebenfalls mehrheitlich abgelehnt gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken.
Abgelehnte Entschließungsanträge der FDP
Die FDP forderte die Bundesregierung in ihrem ersten Entschließungsantrag (19/20131) unter anderem auf, im Zuge der Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien für einen Antrag auf Verlängerung des Übergangszeitraums zu werben und einen entsprechenden Antrag aus London zu unterstützen.
Im zweiten Entschließungsantrag (19/20132) verlangte sie, dass sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen der EU von 2021 bis 2027 streng an den Prinzipien des Europäischen Mehrwerts und der Subsidiarität ausrichtet und an dem Prinzip eines stets ausgeglichenen Haushalt der EU festhält. Neue Eigenmittel der EU sollten nicht eingeführt werden.
Abgelehnte Entschließungsantrag der Linken und Grünen
Die Linke forderte in ihrem Entschließungsantrag (19/20133), die EU-Ratspräsidentschaft dafür zu nutzen, um sich für eine soziale EU, eine soziale Fortschrittsklausel, einen Rahmen für Vollbeschäftigung, eine starke Arbeitslosenversicherung, eine angemessene Lohnentwicklung, europaweit armutsfeste gesetzliche Mindestlöhne und existenzsichernde Mindeststandards für Grundsicherungsleistungen einzusetzen.
Die Grünen forderten in ihrem Entschließungsantrag (19/20134), dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft genutzt wird, um mit dem Green Deal den Klimaschutz und den Strukturwandel in Europa sozial-ökologisch voranzubringen, indem Klimaschutz zur Richtschnur für den Europäischen Wiederaufbaufonds (Next Generation EU Fund) gemacht und im EU-Haushalt die Finanzierung des Green Deals sichergestellt wird. (vom/vst/joh/18.06.2020)