Parlament

Schäuble und Ferrand: In der Corona-Krise ge­mein­sam zu neuer Dynamik

Zwei ältere Männer sitzen nebeneinander an einem Tisch vor Fahnen im Hintergrund.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und der Präsident der französischen Nationalversammlung (Assemblée nationale), Richard Ferrand (rechts) (© DBT/Pascal Bastien)

In einem gemeinsamen Appell zur Sitzung der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung haben die Parlamentspräsidenten von Deutschland und Frankreich am Dienstag, 26. Mai 2020, ein rasches Ende der Grenzkontrollen im Schengen-Raum und eine umfassende Modernisierung der Wirtschaft Europas gefordert. Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble und der Präsident der französischen Nationalversammlung (Assemblée nationale), Richard Ferrand, begrüßen und unterstützen die Initiative von Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom 18. Mai 2020, mit der sich Deutschland und Frankreich zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für die EU bekennen. Sie verbinden damit die Hoffnung, dass Europa aus der Krise gestärkt hervorgehen werde.

Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, die am Donnerstag, 28. Mai, zu einer Sondersitzung in Form einer Videokonferenz zusammentritt, sei ein geeignetes Instrument, um das Regierungshandeln parlamentarisch zu begleiten und der notwendigen Debatte über Wege aus der Krise mit eigenen Ideen zusätzliche Impulse zu verleihen, betonen Schäuble und Ferrand. Die Erklärung im Wortlaut:

Deutschland und Frankreich – in der Corona-Krise gemeinsam zu neuer Dynamik in Europa

Die Corona-Pandemie bedeutet für die europäischen Staaten einen symmetrischen Schock mit weitreichenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Dem Szenario „Hammer and Dance“ folgend, sind inzwischen viele EU-Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung der Pandemie aus dem wochenlangen Lockdown (Hammer) in eine Phase übergegangen, in der die Politik Maßnahmen je nach Durchseuchung anziehen oder lockern kann (Dance). Gerade in dieser Phase ist eine unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eng abgestimmte Strategie notwendig, um Beschränkungen verantwortungsvoll aufzuheben. Dazu braucht es politische Führung.

Als Präsidenten der Parlamente unserer beiden Staaten begrüßen und unterstützen wir deshalb die Initiative von Staatspräsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 18. Mai 2020, mit der sich Deutschland und Frankreich zu ihrer gemeinsamen Verantwortung für die EU bekennen und Vorschläge zur wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Krise unterbreiten – mit dem Ziel, dass Europa aus der Krise gestärkt hervorgeht. Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung ist ein geeignetes Instrument, um das Regierungshandeln parlamentarisch zu begleiten und der notwendigen Debatte über Wege aus der Krise mit eigenen Ideen zusätzliche Impulse zu verleihen. Unter Bezugnahme auf die in der Regierungsinitiative benannten Herausforderungen formulieren wir als Erwartung an unsere Regierungen aus Sicht der nationalen Parlamente:

1. Deutschland und Frankreich sollten sich im Sinne ihrer besonderen Verantwortung für Europa dafür einsetzen, die Freizügigkeit im Schengen-Raum umgehend wiederherzustellen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Das Schließen der deutsch-französischen Grenze hat schon jetzt gravierende Auswirkungen, die über die Grenzregion weit hinausreicht und nicht zuletzt die Wahrnehmung der deutsch-französischen Beziehungen belastet. Es bedarf eines zügigen, koordinierten Handelns, damit Familien nicht weiter getrennt, Pendler behindert und Schulwege blockiert werden, sondern die Grenzen im Alltag wieder zur pulsierenden Lebensader für Handel und Wirtschaft werden.

2. Die weltweiten Forschungen nähren zwar die Hoffnung auf einen Allheilmittel-Impfstoff, realistisch müssen wir aber davon ausgehen, dass es Jahre dauern kann, diesen zu finden und erprobt anwenden zu können. Das heißt, dass wir in der Europäischen Union gemeinsam lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Deutschland und Frankreich sollten daher in den bevorstehenden schwierigen Abwägungsprozessen neben den virologischen die rechtlichen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Aspekte mit einbeziehen – immer auch im Hinblick auf die Implikationen für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit und Solidarität in Europa.

3. Für den wirtschaftlichen Aufschwung, der in Europa bereits jetzt beginnen muss, braucht es schrittweise Lockerungen – und es braucht die richtigen politischen Weichenstellungen. Wir dürfen nicht allein auf die Selbstheilungskräfte der Märkte vertrauen. Deutschland und Frankreich sollten aus der Krise lernen und sie gemeinsam als Chance zu neuer Dynamik innerhalb der Europäischen Union nutzen. Einer Dynamik, die Europa technologiefreundlicher und dadurch wettbewerbs- und zukunftsfähiger macht und die dabei die Unterschiede in Europa nicht größer, sondern kleiner werden lässt. Bei allen Maßnahmen muss dabei strategisch erkennbar sein, dass wir die Fehler und Übertreibungen der Globalisierung, die zu den dramatischen Auswirkungen der Pandemie mit beigetragen haben, nicht fortsetzen. Dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichtet, gilt es für uns Europäer, unserer Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel und für den Erhalt der biologischen Vielfalt gerecht zu werden. Deshalb unterstützen wir nachdrücklich, dass unsere Regierungen den Europäischen Green Deal als die neue EU-Wachstumsstrategie und als Blaupause für eine prosperierende und widerstandsfähige Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050 bekräftigen.

4. Vor diesem Hintergrund sollten sich Deutschland und Frankreich gemeinsam dafür einsetzen, in der Debatte das Hauptaugenmerk darauf zu legen, welche konkreten Maßnahmen die Mitgliedstaaten und die EU ins Auge fassen können, um zum wirtschaftlichen Aufschwung beizutragen. Und dann muss die Finanzierung sichergestellt werden. Im Geiste europäischer Solidarität werden dazu deutlich höhere Beiträge zum europäischen Haushalt zu leisten sein. Mit Blick auf den regierungsseitig vorgeschlagenen, zeitlich begrenzten und zielgerichteten Fonds zur wirtschaftlichen Erholung im Rahmen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) begrüßen wir, dass es der Europäischen Kommission unter der Voraussetzung einer rechtlichen Grundlage, die den EU-Vertrag und Haushaltsrahmen ebenso uneingeschränkt achtet wie die Rechte der nationalen Parlamente, gestattet sein wird, die Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung mittels Aufnahme von Mitteln an den Märkten im Namen der EU zu finanzieren.

5. Jenseits der aktuellen wirtschafts- und gesundheitspolitischen Krisenbewältigung sollten Deutschland und Frankreich ihren Willen bekräftigen, im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas im engen Dialog mit den nationalen Parlamenten und unter aktiver Einbeziehung der EU-Bürgerinnen und Bürger Überlegungen für die Zeit nach der Krise anzustellen, wie Europa solidarischer, reaktionsschneller und souveräner werden kann. Dazu gehört die offene Debatte über notwendige Vertragsänderungen in allen grundlegenden Fragen einer stärkeren politischen Integration.

6. Die aktuelle Pandemie unterstreicht den Handlungsbedarf in Europa insbesondere auf drei Feldern, um sich im globalen Wettbewerb durch eigene Stärke behaupten zu können: Digitalisierung, Forschung & Entwicklung sowie internationale Lieferketten.

6.1. Die Coronakrise führt eindringlich vor Augen, dass der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Europa drängender ist denn je. Arbeit aus dem Homeoffice wurde in den letzten Wochen für viele zum Alltag, „Homeschooling“ für Lehrer und Eltern längst nicht nur zur pädagogischen Herausforderung und eine medizinische Erstberatung durch einen Arzt ohne Aufsuchen der Praxis ein bloßer Zukunftswunsch. Wir benötigen den schnellen Aufbau moderner Datennetzwerke, die Datensicherheit und Netzintegrität garantieren. Die digitale Zukunft Europas liegt weder im Anything Goes des Silicon Valley noch im „Social Scoring“ chinesischer Prägung, es braucht vielmehr einen eigenständigen europäischen Weg, der die technologischen Möglichkeiten und unsere Wertevorstellungen klug ausbalanciert. Die Souveränität Europas lässt sich nur über eine digitale und industrielle Souveränität verwirklichen. Wir müssen in unsere Innovationskraft investieren und die klügsten Köpfe fördern, eine solide und verlässliche Infrastruktur schaffen und ein mutigeres Verständnis für den Einsatz Künstlicher Intelligenz als Zukunftstechnologie fördern. Deutschland und Frankreich sollten vorangehen, indem sie ihre Fähigkeiten bündeln und darauf hinwirken, an europaweiten Standorten unter Einbeziehung der osteuropäischen Kompetenzen auf diesem Gebiet global wettbewerbsfähige Player zu schaffen, die auf der Suche nach der intelligenteren Lösung selbst die digitale Zukunft antizipieren. Das europäische Wettbewerbsrecht sollte entsprechend angepasst werden, um dazu notwendige Unternehmensfusionen zu ermöglichen. In diesem Sinne begrüßen wir die Regierungsankündigung, die europäische Wettbewerbspolitik modernisieren zu wollen.

6.2. Die Bedeutung der Digitalisierung zeigt sich derzeit im Sammeln, dem Austausch und der Analyse von Forschungsdaten zum Coronavirus. Die internationale Suche nach einem Impfstoff verdeutlicht einerseits die Potenziale globaler Zusammenarbeit, sie bedeutet gleichzeitig aber auch einen Wettlauf in der biomedizinischen Forschung. Um darin mit der europäischen Wissenschafts- und Forschungslandschaft zu bestehen, sollten Deutschland und Frankreich im formulierten Ziel strategischer Souveränität im Gesundheitssektor bei der Entwicklung von Impfstoffen, neuen Behandlungsmethoden, Diagnosetests und medizinischen Systemen ihre Koordinierung weiter ausbauen und die verstärkte Zusammenarbeit sowie den intensivierten Datenaustausch untereinander voranbringen.

6.3. Die Pandemie legt schließlich offen, wie fragil die global vernetzte Wirtschaft ist. Die durch Covid-19 ausgelöste Wirtschaftskrise sollten Deutschland und Frankreich zum Anlass einer konstruktiven Überprüfung unseres heutigen Wirtschaftsmodells nehmen. Die Globalisierung der letzten 25 Jahre hat in bestimmten Sektoren und Ländern schmerzhafte Anpassungsprozesse hervorgerufen und ganze Industriezweige in Europa wegbrechen lassen, wenn man nur an die Beschaffung simpler Medizingüter wie Mund-Nasen-Schutzmasken denkt. Die aktuelle Krise verdeutlicht damit drastisch die Auswirkungen von Krisenphänomenen auf globale Lieferketten. Die international verteilten Wertschöpfungsstufen, beispielsweise infolge einer Verlagerung von Produktionsstandorten, erhöhen so das Risiko, dass bei Ausfall eines Wertschöpfungsgliedes die gesamte Kette zum Stillstand kommt. Um Lieferketten möglichst widerstandsfähig gegenüber lokalen und globalen Krisen zu machen, müssen wir den Aufbau von alternativen Lieferketten mit mehreren kostengünstigen Produktionsstandorten zur Diversifizierung des geografischen Risikos entwickeln. Es führt kein Weg daran vorbei, Europa mit größerer Souveränität und strategischer Autonomie auszustatten, insbesondere in den kritischen und lebenswichtigen Teilen der Produktions- und Lieferkette. Neben einer Verkürzung von Lieferketten und Lieferzeiten würde das außerdem zu einer Senkung der Transportkosten und Einsparung von CO2-Emissionen führen. Dass die Investitionsüberlegungen der Regierungsinitiative in diese Richtung gehen, unterstützen wir ausdrücklich.

7. Zusammenfassend müssen wir feststellen, dass die öffentlichen Investitionen eine überragende Rolle beim Wiederhochfahren unserer Volkswirtschaften leisten müssen und werden. Nun ist es an der Zeit, eine inhaltlich ambitionierte Investitionspolitik aufzulegen, um die künftigen Veränderungen unserer Gesellschaft entsprechend begleiten zu können. Die Initiative unser beiden Regierungen sollte den Anstoß dazu geben, eine Art neuen Schuman-Plan zu entwickeln. Es muss nun darum gehen, dass wir entlang der Themen Öffentliches Gesundheitswesen, Nachhaltigkeit und Klima sowie der umfassenden Sicherheit des Kontinents eine Dekade der Investitionen in die Stärkung unserer Resilienz einläuten. Corona ist eine Zäsur, die manch vorherige Entwicklung obsolet macht, andere zuvor schon bestehende Entwicklungen beschleunigen und verstärken wird. Frankreich und Deutschland müssen dazu weiter gemeinsam den Weg nach vorn definieren. Mit Mut und Zuversicht.