Sachverständige kritisieren Karlsruher EZB-Urteil
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (Aktenzeichen: 2 BvR 859 / 15) ist bei Experten im Bundestag auf erhebliche Kritik gestoßen. In einer öffentlichen Anhörung des Europaausschusses unter Vorsitz von Gunther Krichbaum (CDU/CSU) sprachen am Montag, 25. Mai 2020, zahlreiche Sachverständige von einer Kompetenzüberschreitung der Karlsruher Richter und warnten den Bundestag davor, den Konflikt infolge des Urteils weiter eskalieren zu lassen.
„Europäische Rechtsgemeinschaft steht auf dem Spiel“
„Die europäische Rechtsgemeinschaft steht auf dem Spiel“, urteilte Prof. Dr. Franz C. Mayer von der Universität Bielefeld. Der Richterspruch sei ein Angriff auf die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) sowie den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der die Anleihekäufe 2018 gebilligt hatte. Absehbar würde dies weitere Klagen nach sich ziehen, warnte Mayer mit Blick unter anderem auf das gerade beschlossene Pandemie-Notfallankaufprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme).
Für Bundestag und Bundesregierung bleibe „rätselhaft“, was das Bundesverfassungsgericht von ihnen verlange. Seiner Ansicht nach haben beide hinsichtlich der von den Richtern geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung, auf die sie gegenüber der EZB hinwirken sollen, „weiten Spielraum“.
„Kompetenzen eklatant überzogen“
Von einem „Fehlurteil“ sprach Prof. Dr. Bernhard W. Wegener von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Indem das Bundesverfassungsgericht die europäischen Kompetenzen einhegen wolle, überziehe es seine eigenen „in eklatanter Art und Weise“. Der im Urteil aufgeworfene Maßstab der Verhältnismäßigkeit sei in einer Rechtsgemeinschaft zudem „an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt“ streitbar.
Dem Bundestag empfahl Wegener, sich inhaltlich von dem Beschluss abzugrenzen. Außerdem sollten die Abgeordneten die Unabhängigkeit von EuGH und EZB betonen und die EZB bitten, ihnen die eigene Einschätzung zu bestätigen, nach der an der Verhältnismäßigkeit des PSPP-Programms keine Zweifel bestünden.
„Heikle politische und rechtliche Situation“
Ähnlich äußerte sich Prof. Dr. Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG). Die an die EZB gerichtete Bitte auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung sollte der Bundestag um eine Erklärung ergänzen, in der unter anderem klargestellt würde, dass er keine Eingriffe in den Instrumentenkasten der EZB wünsche und bezwecke.
Prof. Dr. Christian Walter (Ludwig-Maximilians-Universität München) sprach wegen der Verpflichtung auf die Unabhängigkeit der EZB von einer „heiklen politischen und rechtlichen Situation“ für den Bundestag. Das Bundesverfassungsgericht nehme das Parlament in die Pflicht, weil ihm selbst die „Kassationsbefugnis gegenüber den Rechtsakten der EU fehle“. Dies stelle eine „weitgehende Instrumentalisierung von Verfassungsorganen“ dar. Walter betonte, die Reaktion der Abgeordneten könne nicht über eine „vorsichtig formulierte Bitte“ hinausgehen.
„Urteil kann eine große Krise auslösen“
Auch Prof. Dr. Claus-Dieter Classen von der Universität Greifswald warnte, das Urteil habe das Potenzial, eine „große Krise“ auszulösen. Der Bundestag könne nur Rechtspositionen formulieren. Inwieweit diese die EZB beeindrucken, bleibe aber abzuwarten.
Prof. Ph.D. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) legte das Augenmerk auf das Mandat der EZB, wonach deren Aufgabe sei, die Preisstabilität zu wahren. Würde dieses Mandat eingeschränkt, gefährdete dies die Glaubwürdigkeit und Effektivität der Zentralbank. „Wie kann eine Geldpolitik, die versucht, ihr Mandat zu erfüllen, nicht verhältnismäßig sein?“, fragte Fratzscher.
„Bundestag kann Entschließung verabschieden“
Prof. Dr. Christian Callies von der Freien Universität Berlin betonte ebenfalls das vorrangige Ziel der Preisstabilität. Zwar könne die EZB ausnahmsweise gerichtlich kontrolliert werden, wenn sie ihr Mandat überschreite. Nach der Konzeption der EU-Verträge sei dafür jedoch nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der EuGH zuständig.
Der Bundestag könne, so er denn mehrheitlich der Meinung wäre, dass die EZB mit dem PSPP-Programm ihr Mandat überschreite, eine Entschließung verabschieden, in der er die Bundesregierung zu einer Nichtigkeitsklage vor dem EuGH auffordere. Bernhard W. Wegener verwies jedoch darauf, dass der Bundestag diese Rechtsauffassung nie geteilt habe.
„Sprengstoff für weitere Aktionen der EZB“
Kritischer gegenüber der EZB und der Rolle der EU-Mitgliedstaaten äußerten sich Prof. Ph.D. Jürgen Rocholl von der European School of Management and Technology (ESMT) und Prof. Dr. Dirk Meyer von der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Rocholl wertete das Urteil als „Sprengstoff“ für weitere Aktionen der EZB und warnte davor, das Mandat der EZB zu weit auszulegen. Deren Rolle sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden, sodass eine Überforderung drohe. Ein Grund dafür sei das Versäumnis der politischen Ebene, mehr Schritte in Richtung europäische Integration zu machen.
Nach Ansicht von Meyer ergibt die Analyse des PSPP-Programms in drei Punkten Hinweise, dass die deutschen Verfassungsorgane ihrer Integrationsverantwortung nicht ausreichend nachgekommen seien und es unter anderem Verstöße gegen das Verbot zur monetären Staatsfinanzierung gegeben habe. Um das zukünftig – etwa beim Pandemie-Notfallankaufprogramm – zu verhindern, sprach er sich in seiner Stellungnahme für eine institutionalisierte und regelmäßige Kontrolle entsprechender Programme, beispielsweise durch den Europaausschuss, aus. (joh/25.05.2020)
Liste der Sachverständigen
- Prof. Dr. Christian Calliess, Freie Universität Berlin
- Prof. Ph.D. Marcel Fratzscher, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. (DIW)
- Prof. Dr. Martin Höpner, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG)
- Prof. Dr. Franz C. Mayer, Universität Bielefeld
- Prof. Dr. Dirk Meyer, Helmut-Schmidt-Universität Universität der Bundeswehr
- Prof. Ph.D. Jörg Rocholl, European School of Management and Technology (ESMT)
- Prof. Dr. Christian Walter, Ludwig-Maximilians-Universität München
- Prof. Dr. Bernhard W. Wegener, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg