Desinformation, politisches Hacking sowie politische Online-Werbung und Cyberangriffe auf Wahlmaschinen beeinflussen nach Ansicht zahlreicher Experten zunehmend die politische Willensbildung in der Europäischen Union. Deutschland und die EU müssten die Forschung zu politischer Kommunikation und Meinungsmanipulation stärker vorantreiben und gemeinsame Gegenstrategien entwickeln, forderten daher unter anderem der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Christian Calliess (Freie Universität Berlin) und Dr. Julian Jaursch von der Stiftung Neue Verantwortung am Montag, 2. März 2020.
„Eine liberale Gesellschaft braucht maximalen Freiraum“
In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union unter Vorsitz von Gunther Krichbaum (CDU/CSU) zum Thema „Schutz der liberalen Demokratie in Europa“ warnte hingegen der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Neyer von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) vor staatlichen Eingriffen in die Meinungsbildungsprozesse. Eine liberale Gesellschaft brauche „maximalen Freiraum“, und jede Intervention in Willensbildungsprozesse sei der Versuch einer Manipulation. „Die Gesellschaft soll den Staat prägen, nicht der Staat die Gesellschaft“, betonte er.
Gegenstand der zweistündigen Sitzung war auch ein Antrag der FDP-Fraktion (19/9225), in der die Abgeordneten die Bundesregierung auffordern, die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur Einrichtung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie positiv zu begleiten.
„Standards für soziale Medien und Datenerhebung formulieren“
Für eine solche Agentur sah Christian Callies allerdings keine Notwendigkeit. Das in der Europäischen Agentur für Cybersicherheit versammelte Know-how sei besser in der Lage, die komplexen Bedrohungslagen einzuschätzen und die Mitgliedstaaten zu beraten. Callies sieht außerdem die EU in der Verantwortung, Standards für die sozialen Medien und die Datenerhebung durch Plattformen zu formulieren.
Die Projektmanagerin für Internationale Cybersicherheitspolitik bei der Stiftung Neue Verantwortung, Julia Schuetze, wies auf die verbreitete Wahrnehmung hin, dass IT-Systeme und Wahl-Infrastruktur angreifbar und manipulierbar seien. Dies könne dem demokratischen Prozess seine Legitimation entziehen, warnte sie. Wahlrelevante Systeme und Daten müssten daher besser vor Cyberangriffen geschützt werden. Ihr Kollege Julian Jaursch forderte überdies, digitale Plattformen stärker zu regulieren und deren Handeln besser zu erforschen.
„Grundlegende Gefährdung der Demokratie“
Dr. Constanze Kurz vom Chaos Computer Club sah Meinungen und Handlungen insbesondere durch die „Manipulationsmacht“ von Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter beeinflusst. Die über diese „kommerziellen Werbeplattformen“ geführten Kampagnen seien intransparent, die Bürger könnte normale politische Wahlwerbung nicht mehr von Desinformation unterscheiden.
Kurz nannte Beispiele für derart manipulierte Wahlen, etwa die Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und die Brexit-Abstimmung in Großbritannien. Sie warnte vor einer „grundlegenden Gefährdung der Demokratie“. Es brauche unter anderem Transparenzanforderungen gegenüber den kommerziellen Plattformen und eine Stärkung der Medien- und Technikkompetenz in allen Altersgruppen, appellierte sie.
„Wissen über Kampagnendynamiken bislang zu gering“
Für Juniorprofessorin Dr. Ulrike Klinger von der Freien Universität Berlin gibt es hingegen bisher keinen Beleg dafür, dass automatisierte Accounts („Social Bots“) entscheidenden Einfluss auf Wahlen gehabt hätten. Meinungs- und Willensbildungsprozesse seien „sehr komplex“ und Social-Media-Plattformen für die meisten eine Nachrichtenquelle von vielen, betonte sie.
Allerdings sprach auch sie sich für mehr Forschung zu politischer Kommunikation und ein systematisches Monitoring von Meinungsmanipulation aus. Das Wissen über Kampagnendynamiken sei bislang zu gering.
Antrag der FDP
Die FDP will in ihrem Antrag (19/9225) die Bundesregierung auffordern, ihre Bemühungen zum Schutz der liberalen Demokratie auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene zu intensivieren. Unter anderem müsse die Bundesregierung bei der Aufstellung des Bundeshaushalts der Schnittstelle von Öffentlichkeitsarbeit und Diplomatie eine stärkere Bedeutung beimessen. Die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur Einrichtung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie müssten positiv begleitet werden.
Gegenüber staatlichen Akteuren außerhalb der EU, vor allem Russland, müsse die Regierung einfordern, dass diese Medienangeboten aus der EU in gleichem Umfang Zugang zum entsprechenden Markt gewähren wie deren Angebote Zugang zum europäischen Markt haben. Die deutschen politischen Stiftungen müssten bei ihrer Arbeit im Ausland, vor allem in Osteuropa und in den Westbalkan-Staaten, stärker unterstützt werden, soweit sie sich für den Schutz der liberalen Demokratie einsetzen. (vom/24.02.2019)
Zeit: Montag, 2. März 2020, 14 bis 16 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 400
Interessierte Besucher können sich bis Freitag, 28. Februar, 12 Uhr, unter Angabe ihres Vor- und Zunamens sowie des Geburtsdatums im Sekretariat des Europaausschusses anmelden (Telefon: 030/227-34896, Fax: 030/227-30014, E-Mail: europaausschuss@bundestag.de). Zum Einlass muss ein Personaldokument mitgebracht werden.
Bild- und Tonberichterstatter können sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-32929 oder 32924) anmelden.
Liste der geladenen Sachverständigen
- Prof. Dr. Christian Calliess, Freie Universität Berlin
- Dr. Julian Jaursch, Stiftung Neue Verantwortung e. V.
- Jun.-Prof. Dr. Ulrike Klinger, Freie Universität Berlin
- Dr. Constanze Kurz, Chaos Computer Club e. V.
- Prof. Dr. Jürgen Neyer, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)
- Julia Schuetze, Stiftung Neue Verantwortung e. V.