Horst Dreier: Grundgesetz mit jeder Form eines Gottesstaates unvereinbar
„Kein weiteres Buch über Kopftücher“, das aufgeregte Debatten befeuere, habe Prof. Dr. Horst Dreier vorgelegt, „sondern ein zeitloses Buch, das zum Nachdenken anregt und das Verständnis für den Wert einer freiheitlichen Verfassung in unseren modernen Zeiten fördert“, lobte Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble das Werk des Würzburger Professors für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht in seinen einleitenden Worten zur Autorenlesung und Diskussion in der Bibliothek des Deutschen Bundestages am Montag, 5. November 2018.
Gleich zu Beginn machte Horst Dreier (64) klar, dass er mit seinem Buch „Staat ohne Gott: Religion in der säkularen Moderne“ keinesfalls, wie der Titel vielleicht suggeriere, eine religionsfeindliche Schrift vorlege. „Staat ohne Gott ist keine Streitschrift für einen kämpferischen Atheismus.“ Selbstverständlich habe Gott in der Welt, in der Gesellschaft und bei den Menschen seinen Platz.
„Staat und Religion strikt voneinander trennen“
Dreier plädiert für den klassischen Grundsatz, Staat und Religion strikt voneinander zu trennen. Im freiheitlichen Verfassungsstaat sei die Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Weltanschauung abgekoppelt, und auch die deutsche Verfassung sei mit jeder Form eines Gottesstaates unvereinbar.
Ausdrücklich habe auch das Bundesverfassungsgericht festgehalten, „dass das Grundgesetz den Staat nicht als den Hüter eines Heilsplanes versteht, kraft dessen er legitimiert erscheine, dem Menschen die Gestaltung seines Lebens bis in die innersten Bereiche des Glaubens und Denkens hinein verordnen zu dürfen“. Vielmehr gehe alle Staatsgewalt vom Volke aus, wie es im Artikel 20 des Grundgesetzes heiße. „Jenseits dieses Volkes gibt es für den irdischen Staat und das weltliche Recht keine weitere Legitimationsinstanz oder Sinnstiftungsquelle“, konstatiert Dreier.
„Säkularisierung des Staates freiheitsnotwendig“
Die weltanschauliche Neutralität des Staates schade dabei den Religionsgemeinschaften und der privaten Glaubensausübung gar nicht – sondern ermögliche diese erst, ja fördere diese sogar. Nur ein „Staat ohne Gott“ könne allen Bürgern den Raum geben, gemäß ihrer unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen in Freiheit zu leben, so Dreier.
„Die gleiche Freiheit aller auch in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung bedingt die korrespondierende Enthaltsamkeit des Staates. Die Säkularisierung des Staates ist daher freiheitsnotwendig und entfaltet – nur scheinbar paradox – religionsbegünstigende Wirkungen.“
Der säkulare Staat sei ein religiöser Freiheitsgewinn, postulierte Dreier, der zunächst sein Buch vorstellte und einige Passagen daraus vortrug, von einem verfassungsgeschichtlichen Abriss der Religionsfreiheit in Deutschland über die wichtigsten Kontroversen zu dem Thema Staat und Religion bis hin zu Passagen im Grundgesetz, in die sich Gott doch eingeschlichen hat (der „Präambel-Gott“) – letzteres müsse man aber als einen Kunstgriff der Verfassungsväter verstehen, die – vor 70 Jahren – der trockenen rechtlichen Materie etwas Glanz hätten verleihen wollen.
Religion und Kirche in der Rechtsordnung
Es gehörte dabei zu den spannenden Punkten in der Präsentation des Autors und während der Diskussion, dass Dreier darauf verwies, dass es nach dem Verständnis der deutschen Rechtsordnung auch zur Religionsfreiheit gehöre, dass Religionsgemeinschaften sich selbst nicht so verfassen müssen, dass sie demokratischen und rechtsstaatlichen Vorstellungen genügen.
So finde man bei der Verhasstheit der katholischen Kirche jede Menge „Verstöße“ gegen die in unserem staatlichen Gemeinwesen geltenden Grundregeln, ob man nun auf die Papstwahl auf Lebenszeit schaue oder auf die Gleichstellung von Frauen. Solange sich Religion und Kirche aber innerhalb der Rechtsordnung bewegten, sei dies in Ordnung. Auch die Bürger selber müssen für sich selber nicht die Werte des Grundgesetzes teilen, man könne diese sogar öffentlich ablehnen oder für das preußische Dreiklassenwahlrecht oder die Monarchie eintreten – solange man nicht gegen geltendes Recht verstoße.
Säkularisierung kein globales Phänomen
„Jeder kann aus seinem Glauben heraus versuchen, Konsequenzen für die einige Lebensführung abzuleiten“, sagte Dreier. Das müssten wir akzeptieren. Zu einem Problem könne dies erst werden, wenn eine sehr große Minderheit nicht mehr bereit sei, die freiheitlich demokratische Verfassung als Ordnungsrahmen anzuerkennen – und beispielsweise es ablehnten, zur Wahl zu gehen. „Keine Republik ohne Republikaner, keine Demokratie ohne Demokraten“, dieser viel verwendete Satz sei so banal wie gültig.
Dreier rief auch in Erinnerung, dass die in Europa und Deutschland stattfindende Säkularisierung kein globales Phänomen ist, sondern dass im Rest der Welt überwiegend völlig andere, vielfach stark religiös geprägte Ordnungsvorstellungen herrschen.
Ambivalenzen des Religiösen
Dass der historische Säkularisierungsprozess in Europa und Deutschland auch Risiken berge und dass Religion als Orientierungsquelle durchaus eine stabilisierende Wirkung für das säkulare Gemeinwesen haben könne, das gehöre zu den Ambivalenzen des Religiösen. Genauso wie sich konträre religiöse Ordnungsvorstellungen auch gegen die staatliche Ordnung richten könnten oder das angestrebte friedliche Miteinander unterschiedlicher Religionsgemeinschaften Intoleranz fördern und in Gewalt umschlagen könne.
Dreier wolle aber mit seinem Buch keinen Beitrag zur intensiv geführten Debatte um den Zusammenprall von Kulturen leisten, insbesondere nicht zur Herausforderung freiheitlicher westlicher Gesellschaften durch den Islam. „Vielmehr erscheint gerade wegen dieser chronischen Konfliktlinien eine Besinnung auf die Grundstrukturen und Grundfragen des säkularen Staates geboten – sein Programm, sein Profil, seine Problematik“, ist Dreier überzeugt. Angesichts aktueller politischer Debatten und Probleme habe er sein Buch vor allem als Selbstvergewisserung geschrieben. (ll/06.11.2018)