Andreas Reckwitz „kartiert“ die spätmoderne Gesellschaft
Der Kultursoziologe Prof. Dr. Andreas Reckwitz ist überzeugt, dass mit der Entwicklung zur Vereinzelung, mit dem Auseinanderfallen, dem Verlust des früher gültigen gesellschaftlichen Konsenses, der Zusammenhalt verloren geht, der die Demokratie jahrzehntelang getragen hat. Im großen Lesesaal des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses in der Bibliothek des Deutschen Bundestages hat Andreas Reckwitz, Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, am Montag, 11. Juni 2018, aus seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten: zum Strukturwandel der Moderne“ vorgetragen.
In dem Buch, das 2017 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet und 2018 für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, analysiert Reckwitz den gesellschaftlichen Wandel seit den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dabei hat er einen fast sämtliche Lebensbereiche durchziehenden Trend hin zur „Singularisierung“ ausgemacht, ein Streben der Menschen nach Besonderem, nach Einzigartigkeit – weg von den traditionellen, an allgemeinen Standards ausgerichteten Lebensmustern der klassischen industriellen Moderne, wie sie noch Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich waren. Nach Reckwitz geht mit der Entwicklung zur Vereinzelung, mit dem Auseinanderfallen, dem Verlust des früher gültigen gesellschaftlichen Konsenses, auch der Zusammenhalt verloren, der die Demokratie jahrzehntelang getragen hat.
Schäuble: Werte und Institutionen sind im „Stresstest“
Dr. Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestages, der die Veranstaltung moderierte, attestierte dem Werk ein wichtiger Beitrag zur aktuellen politischen Debatte und in einer Zeit der Partikularismen, des Populismus und der Fake News um zu sein, einer Zeit, in der westliche Werte und Institutionen sich in einem „Stresstest“ befänden.
Er wolle keinesfalls eine apokalyptische Stimmung verbreiten, wie sie von so vielen Büchern ausgehe, sagte Reckwitz. Ihm gehe es vielmehr um das genaue Hinschauen, um eine nüchterne und kritische Analyse. Ziel seiner Arbeit sei, die spätmoderne Gesellschaft zu „kartieren“. Was dem Beobachter und Wissenschaftler aufgefallen ist, und das er zu seiner These der „Singularisierung“ verdichtet hat, erläuterte der Autor in einem etwa einstündigen Vortrag und las dazu einige Passagen aus seinem aktuellen Buch.
Reckwitz: Einzigartigkeit steht im Vordergrund
Der Trend zur „Singularisierung“ gelte für Individuen ebenso wie für Kollektive, materielle Dinge, Orte und Ereignisse. Das Phänomen zeige sich beispielsweise in sorgsam gepflegten, „kuratierten, inszenierten“ Biografien des postmodernen Individuums bis hin zur Profilierung von Städten oder Regionen mittels professioneller Imagepflege. Egal ob Individuen oder Orte – alle stellen heute ihre Einzigartigkeit in den Vordergrund, ja definieren sich darüber, so Reckwitz.
Vor dem Hintergrund des klassischen industriellen Zeitalters der vergangenen zweihundert Jahre stelle diese Entwicklung einen epochalen Einschnitt dar. Die Unterschiede zwischen beiden Epochen herauszuarbeiten, sei leitendes Interesse seiner Forschungen gewesen und habe ihn angetrieben, das vorliegende Buch zu schreiben. Am Beispiel des Reisens illustrierte der Autor die Veränderungen. Reisen diene dem postmodernen Menschen nicht mehr der in erster Linie der körperlichen Regeneration von der Arbeit und sei nicht mehr allein ein Produkt, das man konsumiere und dann wieder nach Hause zurückkehre.
Als zentrale Ausdrucksform des postmodernen Lebensgefühls diene das Reisen der Suche nach authentischer Erfahrung. Dazu versuche man, sich an einzigartigen Orte aufzuhalten, einzigartige Momente zu schaffen. Dass heute niemand mehr der Durchschnitt sein will, zeige sich auch in anderen gesellschaftlichen Kernbereichen, erläutere Reckwitz. So beginne die Suche nach dem Besonderen und Einzigartigen bereits bei der Erziehung und setze sich fort bis in die Arbeitswelt. Eine auch für Reckwitz erstaunliche Lücke bei dem Trend der Singularisierung klafft im Bereich der Rechtswissenschaft und des Rechtssystems. „Es gibt Felder der Gesellschaft, die weiter vor allem von dem Allgemeinen dominiert werden“, gab Reckwitz auf eine Nachfrage aus dem Publikum zu.
Der Weg in die spätmoderne Gesellschaft
Reckwitz arbeitete in seinem Vortrag heraus, wie es von der industriellen Moderne mit Massenproduktion, gleichförmigen Massenmedien und einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ mit gleichgerichtetem Lebensstandard zur spätmodernen Gesellschaft gekommen ist, in der „Singularität“ zum Maß aller Dinge erhoben worden ist. „Die Bewertungskriterien in fast sämtlichen Lebensbereichen haben sich verschoben“, sagte Reckwitz.
Verantwortlich für den Übergang von der klassischen Moderne zu einer Gesellschaft der Singularisierung waren laut Reckwitz drei Rahmenbedingungen: die Entindustrialisierung hin zu einer Wirtschaft und Arbeitswelt der Dienstleistungen, die beispiellose Bildungsexpansion in den Ländern des Westens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie eine „Kulturalisierung der Ökonomie“: von einer Industrie der Massenproduktion hin zu einer auf das Besondere und Einzigartige ausgerichteten Wirtschaft.
Die neue, an Universitäten ausgebildete Mittelklasse – ein Drittel der Bevölkerung waren Akademiker, das gab es zuvor nicht – sei die treibende Kraft auf dem Weg von der „Herrschaft des Allgemeinen“ zu der „Herrschaft des Besonderen“, also für die Transformation von der Industriegesellschaft zur heutigen Spätmoderne gewesen, erklärte der Kultursoziologe. Diese stark gewachsene Gruppe habe einen Wertewandel, weg von Normen und Pflichten hin zu Selbstentfaltung und Liberalisierung forciert. Nicht mehr ein bestimmter materieller Wohlstand ist das Ziel, sondern Lebensqualität.
Bildung einer Drei-Drittel-Struktur
Reckwitz hat auch untersucht, wie sich die veränderten Rahmenbedingungen und der kulturelle Wertewandel auf die unterschiedlichen Lebenswelten und die Sozialstrukturen auswirken. Die Transformation von der Massengesellschaft zur singularisierten Gesellschaft produziere Gewinner und Verlierer, erläuterte Reckwitz, habe sozial-kulturellen Aufstieg wie Abstieg zur Folge. Es habe sich eine Drei-Drittel-Struktur gebildet. Die neue Mittelklasse stehe im Zentrum der spätmodernen Gesellschaften und sei als Träger des singularistischen Lebensstils mit ihrem Streben nach Authentizität und individueller Selbstentfaltung tonangebend.
Daneben existiere noch die traditionelle Mittelklasse und eine neue Unterklasse. In beiden dominiere eine Erfahrung der Entwertung oder des Abgehängt-Seins. Diese Frustrationen bildeten auch den Nährboden für den um sich greifenden politischen Populismus. Ein weiterer Motor für den Prozess der Singularisierung, ist nach Meinung von Reckwitz die Digitalisierung, das Internet und die sozialen Netzwerke. Jedem stünden heute die Mittel zur Verfügung auf diesem Markt der Aufmerksamkeit zum Star zu werden.
Negativerscheinungen des Singularisierungsprozesseses
Als Negativerscheinungen des Singularisierungsprozesses hat Reckwitz das verbreitete Gefühl eines Mangels an Anerkennung ausgemacht, sowie Überforderungssymptome, die der unablässige Kampf um Aufmerksamkeit bei den Menschen hinterließen. „Der anspruchsvolle, kräftezehrende Lebensstil birgt ein viel größeres Enttäuschungspotenzial“, sagte Reckwitz. Dabei rühre das Anstrengende vor allem aus dem Versuch, den Wunsch nach Selbstentfaltung mit dem weiter vorhandenen Streben nach Erfolg und klassischen Statusmerkmalen zu verbinden – eine kulturhistorisch ungewöhnliche Symbiose sei dies. Und schließlich könne man eine Erosion der bisherigen allgemeinen Öffentlichkeit und der politischen Strukturen beobachten zugunsten der Entstehung von Teilöffentlichkeiten.
Konkrete Empfehlungen an die Politik hatte Reckwitz nicht im Gepäck, die wolle und könne er nicht geben. Er gab offen zu, dass sich ihm noch mehr Fragen stellten als er Antworten geben könne. In der Politik beobachte er als Gegenbewegung zum mächtigen Trend der Singularisierung ein Hinarbeiten auf eine Renaissance des Allgemeinen in verschiedenen Handlungsfeldern, das darauf ziele, bestimmte soziale und kulturelle Güter für alle erreichbar zu machen oder zu sichern.
So sei eine Ausdifferenzierung der Berufswelt ja eigentlich politisch gewollt und wünschenswert. Aber nie könnten alle einen höheren Bildungsabschluss erreichen. Als Antwort auf die massenweise Akademisierung müsse man weiter daran arbeiten, andere, gleichwertige Ausbildungswege und Berufe zu schaffen. Bei der Suche nach allgemeinen Maßstäben solle man sich aber vor nostalgischen Reflexen hüten. Ein Zurück in die industrielle Moderne könne und werde es nicht geben. (ll/12.06.2018)