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Parlament

Heinrich August Winkler zum Ermächtigungsgesetz

Der Historiker Prof. Dr. Heinrich August Winkler hat beim Empfang der SPD-Bundestagsfraktion am Dienstag, 19. März 2013, eine Rede zum 80. Jahrestag der Rede von Otto Wels zum „Ermächtigungsgesetz“ 1933 gehalten. Dies ist ein Auszug aus dem Vortrag:

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: Kein Satz aus der Rede, mit der Otto Wels am 23. März 1933 das Nein der Sozialdemokraten zu dem sogenannten Ermächtigungsgesetz begründete, hat sich der Nachwelt so eingeprägt wie dieser. Was Wels der deutschen Sozialdemokratie zur Ehre anrechnete, waren vor allem die Leistungen, die die SPD in der Weimarer Republik erbracht hatte. Der Parteivorsitzende nannte „unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete“; er verwies darauf, dass die Sozialdemokraten an einem Deutschland mitgewirkt hätten, „in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht“. Die Weimarer Verfassung sei keine sozialistische Verfassung, wohl aber eine Verfassung, die auf den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung und des sozialen Rechts beruhe - Grundsätzen, die einen unabdingbaren Teil des politischen Glaubensbekenntnisses der Sozialdemokraten ausmachten.

Wels' Rückblick auf die erste deutsche Republik war eine Antwort auf das Zerrbild, das Hitler von Weimar zeichnete. „Vierzehn Jahre Marxismus haben Deutschland ruiniert“ - so lautete die plakative Formel im Aufruf der Regierung Hitler an das deutsche Volk vom 1. Februar 1933. Natürlich war die Weimarer Republik nie eine marxistische gewesen, nicht einmal eine sozialdemokratische Republik. Aber ohne die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hätte es die erste deutsche Demokratie nicht gegeben.

An ihrem Anfang stand der Entschluss der SPD, die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte fortzusetzen, zu der sich die Mehrheitssozialdemokraten während des Ersten Weltkriegs durchgerungen hatten. Es bedurfte dazu der Abkehr von jenem entschiedenen Nein zu Koalitionen mit bürgerlichen Parteien, auf das sich die SPD und unter ihrer Führung die Parteien der Zweiten Internationale im Jahr 1900 festgelegt hatten. Die Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich 1916/17 auf Grund ihrer Gegnerschaft zur Bewilligung von Kriegskrediten von der Mutterpartei abgespalten hatten, beharrten hingegen auf der Vorkriegsposition. Auf paradoxe Weise war die Spaltung der Sozialdemokraten also beides: eine Vorbelastung und eine Vorbedingung der ersten deutschen Demokratie - eine Vorbelastung, weil Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung ihren Gegnern höchst gelegen kamen, eine Vorbedingung, weil eine parlamentarische Demokratie ohne die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum nicht möglich war.

Nach dem Untergang Weimars hielten sich viele führende Sozialdemokraten wirkliche oder vermeintliche Versäumnisse und Fehlentscheidungen der ersten Stunde vor. Die SPD hätte in der revolutionären Übergangszeit zwischen der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und der Wahl der verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 weniger bewahren müssen und mehr verändern können, und das vor allem im Hinblick auf die Unterordnung des Militärs unter die zivile Staatsgewalt und die Ablösung antirepublikanischer Beamter namentlich in Ostelbien. An der Richtigkeit der Grundsatzentscheidung für die rasche Wahl einer Konstituante und für die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte aber gab es auch im Rückblick nichts zu deuteln. Ohne diese Selbstfestlegungen wäre nichts von dem zustande gekommen, was Otto Wels am 23. März 1933 zu den historischen Leistungen der Weimarer Republik rechnete.

Von den 14 Jahren der ersten deutschen Republik entfielen elf auf die Zeit der parlamentarischen Demokratie. Sie endete am 27. März 1930 mit der Auflösung der letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller, eines Kabinetts der Großen Koalition, die von der SPD bis hin zur unternehmernahen Deutschen Volkspartei, der Partei des 1929 verstorbenen Gustav Stresemann, reichte. Die SPD hätte durch mehr Kompromissbereitschaft bei der Sanierung der Arbeitslosenversicherung das Scheitern der Regierung Müller verhindern können. Dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion sich anders entschied, trug ihr heftigen Widerspruch seitens der unterlegenen Minderheit ein. Rudolf Hilferding, der zweimalige Reichsfinanzminister und theoretische Kopf der Partei, kam damals schon zu dem Schluss, die Sozialdemokraten hätten gut daran getan, sich nochmals mit den bürgerlichen Parteien zu verständigen, statt „aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben“.

Auf die parlamentarische Demokratie folgte die Zeit der Präsidialkabinette, des Regierens mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Absatz 2 der Weimarer Verfassung. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten zur zweitstärksten Partei in der Reichstagswahl vom 14. September 1930 beschlossen die Sozialdemokraten, das Minderheitskabinett des Reichskanzlers Heinrich Brüning aus der katholischen Zentrumspartei zu tolerieren. Dass sie diesen Kurs bis zur Entlassung Brünings Ende Mai 1932 durchhielten, gehört zu den damals und später leidenschaftlich umstrittenen Entscheidungen der Weimarer SPD.

Für die unpopuläre Tolerierungspolitik gab es zunächst zwei Gründe: Die Sozialdemokraten wollten erstens eine weiter rechts stehende, von den Nationalsozialisten abhängige Reichsregierung verhindern. Zweitens ging es ihnen darum, in Preußen, dem größten deutschen Staat, an der Regierung zu bleiben. An der Spitze eines Kabinetts der „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei, die sich seit 1930 Deutsche Staatspartei nannte, stand dort der Sozialdemokrat Otto Braun. Hätte die SPD Brüning gestürzt, wäre Braun vom Zentrum zu Fall gebracht worden. Mit der Regierungsmacht in Preußen hätten die Sozialdemokraten die Kontrolle über die preußische Polizei verloren, das wichtigste staatliche Machtinstrument im Kampf gegen Umsturzbestrebungen von rechts und links außen.

Zu diesen beiden Gründen der Tolerierungspolitik trat im Lauf der Zeit noch ein dritter hinzu: Im Frühjahr 1932 sollte die Volkswahl des Reichspräsidenten stattfinden. Je stärker die Nationalsozialisten wurden, desto mehr wuchs die Gefahr, dass sie den Mann an der Spitze des Reiches stellen, also ins Machtzentrum vorstoßen könnten. Nur zusammen mit dem Zentrum und der übrigen bürgerlichen Mitte ließ sich verhindern, dass Weimar auf diese Weise zugrunde ging.

Die Kommunisten bekannten sich zum revolutionären Bürgerkrieg und zur Errichtung von „Sowjetdeutschland“. Hätte die SPD auf eine linke Einheitsfront gesetzt, wäre dies das Ende jedweder Art von Machtbeteiligung gewesen. Die SPD hätte einen erheblichen Teil ihrer Wähler und Mitglieder verloren und noch mehr verschreckte bürgerliche Wähler in die Arme der Nationalsozialisten getrieben. Die Vorstellung, man könne auf diese Weise die Demokratie retten, war angesichts des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen SPD und KPD reines Wunschdenken, ja nach Einschätzung der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Wels ein Ausdruck von politischem Abenteurertum.

Die Tolerierung der Regierung Brüning war eine Politik ohne verantwortbare Alternative, aber auch nicht mehr als eine Politik des kleineren Übels. Ihre Kehrseite war die Radikalisierung der Massen, die entweder den Kommunisten oder, in sehr viel größerer Zahl, den Nationalsozialisten zuströmten. Hitler zog einen zusätzlichen Vorteil daraus, dass er seine Partei als Alternative sowohl zu der bolschewistischen als auch zu der reformistischen Spielart des „Marxismus“ und als einzige systemverändernde Massenpartei rechts von den Kommunisten präsentieren konnte. Er sprach einerseits das verbreitete Ressentiment gegenüber der Demokratie an, die aus der Sicht der Rechten mit dem Makel der Niederlage von 1918 behaftet war und als Staatsform der Sieger des Westens, mithin als „undeutsch“, galt. Auf der anderen Seite appellierte er pseudodemokratisch an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts, das seit dem Übergang zum Präsidialsystem viel von seiner Wirkung verloren hatte. Hitler wurde also nach 1930 zum Hauptnutznießer der ungleichzeitigen Demokratisierung Deutschlands: der frühen Einführung eines demokratischen Reichstags-Wahlrechts und der späten Parlamentarisierung des Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von 1918.

Das Dilemma der Sozialdemokratie hat Rudolf Hilferding im Juli-Heft 1931 der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“ in einem denkwürdigen Verdikt zusammengefasst. Er sprach von einer „tragischen Situation“ seiner Partei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom 14. September 1930 geschaffen hätten. „Der Reichstag ist ein Parlament gegen den Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbeiterschaft, für die Außenpolitik . . . Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt wird - eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.“

Noch nicht dagewesen war auch die Zumutung, mit der die SPD im Frühjahr 1932 ihre Anhänger konfrontierte: die Parole „Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!“ So weit war es inzwischen mit Weimar gekommen. Der einzige Kandidat, der einen Reichspräsidenten Hitler verhindern konnte, war der monarchistische Amtsinhaber, der einstige kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Hätte dieser nicht, gestützt auf die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die bürgerlichen Wähler von der Mitte bis zur gemäßigten Rechten, im zweiten Wahlgang am 10. April 1932 über Hitler obsiegt, wäre das „Dritte Reich“ noch am gleichen Abend angebrochen.

Zum Wendepunkt der deutschen Staatskrise wurde der 30. Mai 1932: der Tag, an dem Hindenburg den wichtigsten Betreiber seiner Wiederwahl, Reichskanzler Heinrich Brüning, entließ, um zwei Tage später das „Kabinett der Barone“ unter dem ehemaligen rechten Flügelmann der preußischen Zentrumspartei Franz von Papen zu berufen. Mit dem vom Reichspräsidenten, von der Reichswehrführung und dem ostelbischen Rittergutsbesitz betriebenen Rechtsruck endete die sozialdemokratische Tolerierungspolitik und mit ihr die erste, die gemäßigte Phase des Präsidialregimes. Die Kennzeichen der nun beginnenden zweiten Phase waren der offen zur Schau getragene autoritäre Antiparlamentarismus und das Bemühen um ein Arrangement mit den Nationalsozialisten.

Zu den Forderungen Hitlers, die die neue Regierung sogleich erfüllte, gehörten die Aufhebung des im April verhängten Verbots von SA und SS und die Auflösung des im September 1930 gewählten Reichstages. Der Neuwahltermin wurde auf den 31. Juli 1932 festgelegt. Elf Tage vor der Wahl, am 20. Juli 1932, ließ der Reichspräsident auf dem Weg einer Reichsexekution nach Artikel 48 Absatz 1 der Reichsverfassung die Weimarer Koalition in Preußen, das Kabinett Otto Braun, absetzen, das seit der Landtagswahl vom 24. April über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügte und nur noch geschäftsführend im Amt war. Nur das Reich sei noch in der Lage, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Preußen wiederherzustellen: So lautete die offizielle Begründung des „Preußenschlags“.

Der Aufruf der Sozialdemokraten, den Gewaltakt des 20. Juli 1932 am 31. Juli mit einer Stimme für die SPD zu beantworten, fand nicht das erhoffte Echo. Bei der Reichstagswahl stiegen die Nationalsozialisten mit einem Stimmenanteil von 37,4 Prozent zur stärksten Partei auf; die SPD kam auf 21,6, die KPD auf 14,3 Prozent. Das Ergebnis bedeutete eine Mehrheit gegen die Demokratie - eine negative Mehrheit aus Nationalsozialisten und Kommunisten, der man rechts auch noch die Stimmen der monarchistischen Deutschnationalen hinzurechnen musste. Von einer Mehrheit im Reichstag aber waren die Rechtsparteien weit entfernt.

Eine parlamentarische Krisenlösung wäre eine „braun-schwarze Koalition“ gewesen: ein auf die Einhaltung der Weimarer Verfassung festgelegtes Bündnis aus NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei, wie die beiden katholischen Parteien es anstrebten. Es scheiterte daran, dass Hitler auf der Bildung eines Präsidialkabinetts mit den Vollmachten des Artikels 48 bestand. Einen mit diesen Befugnissen ausgestatteten Reichskanzler Hitler aber lehnte Hindenburg zu diesem Zeitpunkt noch kategorisch ab. Hingegen war er bereit, den Reichstag unter Berufung auf einen Verfassungs- oder Staatsnotstand abermals aufzulösen, ohne gleichzeitig Neuwahlen innerhalb der verfassungsmäßigen Frist anzuordnen. Da die Regierung von Papen vor diesem Schritt aus Furcht vor einem Bürgerkrieg zurückschreckte, kam es am 6. November zur zweiten Reichstagswahl des Jahres 1932.

Das Ergebnis dieser Wahl wirkte sensationell: Erstmals seit 1930 verloren die Nationalsozialisten an Stimmen. Gegenüber der Juliwahl büßte die NSDAP mehr als zwei Millionen Stimmen ein, während die Kommunisten fast 700 000 Stimmen hinzugewannen, was ihnen zur magischen Zahl von 100 Sitzen verhalf. Die SPD, so stellte Otto Wels vier Tage später im Parteiausschuss fest, habe im Verlauf des Jahres 1932 fünf Schlachten mit dem Ruf „Schlagt Hitler!“ geschlagen, „und nach der fünften war er geschlagen“. Die andere Seite des Wahlergebnisses kommentierte der Chemnitzer Bezirksvorsitzende Karl Böckel, ein Vertreter des linken Parteiflügels, in der gleichen Sitzung mit den Worten: „Wir sind im Endspurt mit den Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate verlieren, dann sind die Kommunisten stärker als wir.“ Die kommunistische Sicht brachte am 10. November die „Prawda“ zum Ausdruck. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sah Deutschland unterwegs „zum politischen Massenstreik und zum Generalstreik unter der Führung der Kommunistischen Partei, zum Kampf um die proletarische Diktatur“.

Mit ihrer Revolutionspropaganda schürten die Kommunisten die Angst vor dem Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu einer wichtigen Verbündeten Hitlers. Sie trug entscheidend dazu bei, dass die Niederlage der NSDAP vom 6. November 1932 um ihren politischen Sinn gebracht wurde und Hitler die Chance erhielt, sich als Retter vor der roten Revolution zu präsentieren. Im Januar 1933 gelang es Papen, der das Amt des Reichskanzlers inzwischen an den eher vorsichtig agierenden Reichswehrminister General Kurt von Schleicher hatte abgeben müssen, den Reichspräsidenten von seinem bisherigen klaren Nein zu einer Kanzlerschaft Hitlers abzubringen. Papen sprach nicht nur für sich, sondern auch für den rechten Flügel der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. Im gleichen Sinn versuchten Vertreter des hochverschuldeten ostelbischen Rittergutbesitzes und der Reichslandbund auf das Staatsoberhaupt einzuwirken. Ein von einer konservativen Kabinettsmehrheit „eingerahmter“ Reichskanzler Hitler erschien dem Kreis um Hindenburg, der vielzitierten „Kamarilla“, und schließlich dem Reichspräsidenten selbst als ungefährlichste, vielleicht sogar ideale Krisenlösung: Sie sollte den alten Eliten die Herrschaft und zugleich, in Gestalt der Nationalsozialisten als Juniorpartner, die lange ersehnte Massenbasis verschaffen.

Einen Zwang, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, gab es für Hindenburg nicht. Hindenburg hätte Reichskanzler von Schleicher auch nach dem zu erwartenden Misstrauensvotum einer negativen Reichstagsmehrheit geschäftsführend im Amt belassen oder einen möglichst wenig polarisierenden, „unpolitischen“ Nachfolger berufen können. Der mehrfach erwogene verfassungswidrige Aufschub einer Neuwahl war keineswegs die einzige Alternative zur Ernennung Hitlers. Dieser war zwar immer noch der Führer der größten Partei, von einer parlamentarischen Mehrheit nach den Wahlen vom 6. November aber weiter entfernt als nach der Wahl vom 31. Juli 1932. Dass er trotzdem am 30. Januar 1933 von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, verdankte er jenem Teil der Machtelite, der seit langem darauf aus war, mit der verhassten Republik von Weimar radikal zu brechen.

Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, war Deutschland schon kein Rechtsstaat mehr. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, am 28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, erlassen, hatte die wichtigsten Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft gesetzt. Die Wahlen erbrachten eine klare Mehrheit, nämlich 51,9 Prozent, für die Regierung Hitler: 43,9 Prozent für die NSDAP, acht Prozent für ihren Koalitionspartner, die „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“. Eine Zweidrittelmehrheit für das von Hitler erstrebte Ermächtigungsgesetz aber war damit noch längst nicht erreicht. Um diese sicherzustellen, brach die sogenannte „Nationale Regierung“ die Verfassung: Sie behandelte die Mandate der Kommunisten als nicht existent, wodurch sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“ des Reichstags von 566 um 81 Mandate verminderte. Sodann änderte der Reichstag am 23. März seine Geschäftsordnung: Abgeordnete, die der Reichstagspräsident, der Nationalsozialist Hermann Göring, wegen unentschuldigten Fehlens von den Sitzungen ausschließen konnte, galten dennoch als „anwesend“. Selbst wenn die Abgeordneten der SPD geschlossen der Sitzung ferngeblieben wären, hätten sie nach dieser verfassungswidrigen Manipulation die Verfassungsänderungen nicht verhindern können.

Das Ermächtigungsgesetz gab der Reichsregierung pauschal das Recht, für die Dauer von vier Jahren Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung abwichen. Die einzigen „Schranken“ bestanden darin, dass die Gesetze die „Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats nicht als solche zum Gegenstand haben“ und nicht die Rechte des Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag und Reichsrat waren von der Gesetzgebung fortan ausgeschlossen. Das galt ausdrücklich auch für Verträge mit fremden Staaten.

Die Gründe, die das Zentrum veranlassten, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, sind ein Thema für sich: Die Abgeordneten der zweitgrößten demokratischen Partei setzten auf die kirchenpolitischen Zusicherungen, die Hitler dem Parteivorsitzenden, dem Prälaten Kaas, mündlich gemacht hatte, auf deren schriftliche Bestätigung das Zentrum aber am 23. März, dem Tag der Abstimmung, vergeblich wartete. Die zu Splittergruppen gewordenen liberalen Parteien gingen ebenso wie die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, von der Annahme aus, dass eine „legale“ Diktatur ein kleineres Übel sei als die illegale Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzes drohte. Das Ja der bürgerlichen Parteien war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung.

Das Nein der SPD war von der Regierung einkalkuliert, erforderte aber ein hohes Maß an Mut. Vor der Krolloper, dem provisorischen Tagungsort des Reichstags, mussten sich die Abgeordneten, die nicht zum Regierungslager gehörten, ihren Weg durch grölende Massen von Parteigängern der Nationalsozialisten bahnen, aus deren Reihen Rufe wie „Zentrumsschwein“ und „Marxistensau“ ertönten. Im Innern des Gebäudes wimmelte es von Angehörigen der SA und SS, die besonders dort an den Saalausgängen postiert waren, wo die Sozialdemokraten saßen. An der Sitzung nahmen 93 von insgesamt 120 Abgeordneten der SPD teil. Als vierundneunzigster kam vor der Abstimmung noch der kurz zuvor verhaftete, inzwischen aber wieder freigekommene Carl Severing, der langjährige preußische Innenminister, hinzu. Von den Abwesenden waren einige bereits inhaftiert, darunter der Lübecker Abgeordnete Julius Leber, der auf dem Weg in den Reichstag festgenommen worden war. Von den Politikern jüdischer Abstammung hatten sich einige, wie zum Beispiel Hilferding, im Einvernehmen mit der Fraktionsführung wegen Krankheit entschuldigt; andere waren bereits emigriert. Ein Abgeordneter, der ehemalige Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann, war zwei Wochen zuvor von SA- und SS-Männern in seiner Kölner Wohnung überfallen und zusammengeschlagen worden und lag seitdem im Krankenhaus. Otto Wels, der an Bluthochdruck litt, hatte sieben Wochen zuvor gegen den Rat seiner Ärzte das Sanatorium verlassen.

Die Nationalsozialisten hätten die verfassungsändernde Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz auch ohne ihre verfassungswidrigen Maßnahmen vor der Abstimmung erreicht. Mit 444 Ja-Stimmen gegenüber 94 Nein-Stimmen nahm das Gesetz die entsprechende Hürde bequem. Die Macht hätte die NSDAP freilich auch dann nicht wieder aus der Hand gegeben, wenn das Ermächtigungsgesetz an der Barriere der verfassungsändernden Mehrheit gescheitert wäre. Die Verabschiedung des Gesetzes erleichterte die Errichtung der Diktatur aber außerordentlich. Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.

Hitlers Legalitätstaktik - sein Versprechen vom September 1930, die Macht nur auf legalem Weg zu übernehmen - war eine wesentliche Vorbedingung der Machtübertragung vom 30. Januar 1933, hatte an diesem Tag ihren Zweck jedoch noch nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde. Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war.

Dem massiven Druck der Nationalsozialisten hielten allein die Sozialdemokraten stand. Dass nicht ein einziger Abgeordneter aus den Reihen der katholischen und der liberalen Parteien mit ihnen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, machte nochmals deutlich, woran Weimar letztlich gescheitert war: Der Staatsgründungspartei von 1918 waren die bürgerlichen Partner abhandengekommen. Was die Sozialdemokraten, auf sich allein gestellt, noch zu tun vermochten, taten sie. Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur ihre eigene Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik.

(Der Verfasser ist emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin.)