Das Recht auf Widerstand zum Schutz der Verfassung
Das Grundgesetz ist für den „Alltag“ gemacht. Seine Artikel – und die Gesetze, die auf ihnen fußen, finden jeden Tag Anwendung. Anders ist es jedoch mit Artikel 20 Absatz 4, dem Widerstandsrecht. Es ist für den Ausnahme- und Notfall gemacht und wird auch nur dann wirksam. Doch was heißt Notfall? Worum geht es eigentlich genau bei diesem Widerstandsrecht im Grundgesetz? Wer hat das Recht zum Widerstand? Und: Wann ist dieser legitim, wann nicht?
Adressat sind die Bürger
In Artikel 20 Absatz 4 der Verfassung heißt es: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Gemeint ist die Ordnung der parlamentarischen Demokratie, des sozialen und föderalen Rechtsstaates, die in Artikel 20 Absatz 1 bis 3 genannt werden.
Der Widerstandsartikel richtet sich an die Bürger – ganz anders als die Regelungen, die gleichzeitig als Notstandsverfassung ins Grundgesetz eingefügt wurden. Während diese die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen stärken sollen, ermächtigt Artikel 20 Absatz 4 ausdrücklich die Bürger.
Geschützt wird der Verfassungsstaat
„Sie sind das letzte Aufgebot zum Schutz der Verfassung. Wenn nichts anderes mehr hilft, drückt diese ihnen die Waffe des Widerstandsrechts in die Hand, um ihr eigenes Überleben zu sichern“, schreibt der Staatsrechtler Josef Isensee in seinem Aufsatz „Widerstandsrecht im Grundgesetz“ im 2013 erschienen „Handbuch Politische Gewalt“.
So setze das Widerstandrecht private Gewalt frei und durchbreche die Bürgerpflicht zum Rechtsgehorsam. Das Ziel: Es geht in Artikel 20 Absatz 4 um eine Nothilfe der Bürger zu dem Zweck, Angriffe auf die Verfassung und die grundgesetzliche Ordnung abzuwehren. Das Schutzgut ist damit eng umrissen: der Verfassungsstaat.
„Der Widerstandsfall ist ein Staatsstreich“
Doch in welchen Situationen ist der Widerstand durch Artikel 20 Absatz 4 legitimiert? Laut Isensee geht es um Angriffe, die sich gegen die Verfassung als Ganzes richten und die grundgesetzliche Ordnung als solche von Grund auf bedrohen. „Der Widerstandsfall ist ein Staatsstreich“, schreibt er.
Der Widerstandsfall trete nicht ein, wenn „bei einer Bundestagswahl Unkorrektheiten“ auftauchten, die Regierung Grundrechte verletze oder der „Bundespräsident den Bundestag zu Unrecht“ auflöse, argumentiert der frühere Bonner Rechtsprofessor. Das allein sei nicht ausreichend.
Artikel 20 rechtfertigt keinen zivilen Ungehorsam
„Das Widerstandsrecht reagiert nicht auf einzelne Rechtsverstöße, für die ohnehin Abhilfe besteht.“ Daher decke es auch nicht den zivilen Ungehorsam, der sich gegen einzelne Handlungen oder Einrichtungen richte, die als „rechtswidrig, unmoralisch gefährlich“ empfunden würden – die Abschiebung eines Ausländers etwa, ein Verkehrsprojekt oder der Transport von Nuklearmaterial.
Um die Frage zu beantworten, wann denn Widerstand im Sinne des Artikel 20 gerechtfertigt ist, geben die letzten sechs Wörter Aufschluss: „..., wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Es geht also um den absoluten Ausnahmefall: Es müssten „alle Mittel der Normallage“ versagen, um die Gefahr abzuwehren, ehe die Bürger zu den „heiklen Mitteln des Rechtsbruchs und der Gewaltsamkeit greifen“, betont Isensee. Doch solange „Konflikte noch in zivilen Formen“ ausgetragen werden können, das demokratische System intakt ist und solange „friedlicher Protest noch Gehör“ finden kann, dürften sie es nicht.
„Staat soll handlungsfähig bleiben“
Fast 20 Jahre fehlte ein solcher Widerstandsartikel in der deutschen Verfassung. Vom Parlamentarischen Rat 1949 mit großer Mehrheit zunächst abgelehnt, da man ihn als eine „Aufforderung zum Landfriedensbruch“ (Carlo Schmid) ansah, fand er seinen Weg ins Grundgesetz erst 1968 – gemeinsam mit der Notstandsverfassung, den als Zusatz zum Grundgesetz vom Bundestag verabschiedeten Notstandsgesetzen.
Diese sollen die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen wie dem Katastrophen-, Verteidigungs- und Spannungsfall sichern und dürfen vorübergehend auch Grundrechte einschränken. Aus Furcht vor Missbrauch dieser Notstandsbefugnisse durch die Staatsgewalt war schließlich 1968 auch das Widerstandsrecht eingefügt worden. Doch den Ausnahmefall, die Voraussetzung, die es braucht, um überhaupt greifen zu können, hat es seitdem nicht gegeben. (sas/11.12.2013)