Parlamentsgeschichte per Mausklick
„Das Selbstbestimmungsrecht wird seinen Siegeszug durch die Welt fortsetzen und wird auch vor den Grenzen der Zone nicht haltmachen.“ Diesen Satz sprach Bundeskanzler Konrad Adenauer am 18. August 1961 im Deutschen Bundestag — fünf Tage nachdem die DDR-Regierung begonnen hatte, die Mauer zu bauen. Ein Satz, der erst 28 Jahre später Wirklichkeit wurde und ab heute im Internet nachgelesen werden kann. Der Deutsche Bundestag bietet ab sofort unter pdok.bundestag.de sämtliche Plenarprotokolle und Bundestagsdrucksachen seit 1949 auch online an. Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert stellte das Projekt am Mittwoch, 27. Februar, auf einer Pressekonferenz vor.
63 Jahre Parlamentsgeschichte online recherchierbar
75.000 Dokumente, 1,25 Millionen Seiten wurden dafür aufwendig digitalisiert und recherchierbar gemacht. Monika Jantsch, Leiterin des Referats Parlamentsdokumentation, freut sich, dass endlich eine große Lücke in der Online-Dokumentation geschlossen werden konnte: „Es sind ältere Materialien bereits online gewesen, aber von 1949 bis 1976 hatte der Bundestag nichts zu bieten.“
17 Wahlperioden — 63 Jahre Parlamentsgeschichte — sind protokolliert und nun in einer Datenbank elektronisch abrufbar. Dabei entwickelte das Referat IT-Systementwicklung der Bundestagsverwaltung eine spezielle Suchmaske, die die Struktur der Texte erkennt und so den Nutzern einen leichten Zugang zu Gesetzentwürfen, Anträgen oder Sitzungsniederschriften ermöglicht. Hinter den Protokollen stecken unendlich viele hitzige Debatten, emotionale Reden und bedeutsame Entscheidungen.
Lammert erinnerte daran, dass am Sonntag (!), 27. Februar 1955, im Bundestag eine insgesamt mehr als 40-stündige Debatte über die Pariser Verträge stattfand, die das Besatzungsstatut Deutschlands beendeten. „Was bislang in Archiven gesucht und gefunden werden musste, wird jetzt elektronisch verfügbar sein“, sagte der Bundestagspräsident. Dies werde den Ruf des Bundestages festigen, „an der Spitze der Bewegung“ zu sein. Lammert sprach allen Beteiligten seien Respekt für diese '„beachtliche Kraftanstrengung“ aus.
Bundesdruckerei scannte 75.000 Dokumente
Damit die Protokolle und Drucksachen für jedermann zugänglich sind, mussten etliche Hürden genommen werden. Zunächst musste für das umfangreiche Projekt in einer Ausschreibung ein Unternehmen gefunden werden, das die Dokumente digitalisierten konnte.
Die Bundesdruckerei in Berlin setzte sich im Wettbewerb durch: Die Mitarbeiter scannten alle 1,25 Millionen Seiten der 75.000 Dokumente ein und unterzogen sie anschließend einer aufwendigen Qualitätskontrolle. Rund 20 Mitarbeiter waren 16 Monate auf der Suche nach Rechtschreibfehlern und anderen Ungenauigkeiten – denn diese würden die Volltextsuche im Online-Dokument erschweren. „Wir erzielen im Textteil des PDF-Dokumentes eine Genauigkeit von 99,8 Prozent“, sagt Monika Jantsch und erklärt weitere Schwierigkeiten: „Man hatte über die Jahre unterschiedliche Druckereien, die für den Bundestag die Materialien gedruckt haben.“ Dies bedeutete eine unterschiedliche Qualität der Papierdokumente, die bei der Digitalisierung habe ausgeglichen werden müssen.
„Authentisch, wenn man das Alter ansieht“
„Zudem weisen die älteren Dokumente sehr starke Vergilbungen auf“, erklärt Peter Land, Referent in der Parlamentsdokumentation. Auch Holzeinschlüsse im Papier und unterschiedliche Formatierungsvorgaben zwischen den Legislaturperioden zeugten von pathetischem Wert. „Es macht das Dokument authentisch, wenn man ihm das Alter ansieht“, so Monika Jantsch. Risse, Kritzeleien, andere Gebrauchsspuren verleihen — auch wenn diese so weit wie möglich entfernt werden sollten – eine „ehrwürdig-antike Note“. Die Dokumente selbst erzählen dabei eine lebendige Geschichte, bringen dem Nutzer die Politik nahe.
Früher seien die Anträge der Fraktionen oft viel kürzer gewesen, sagt Peter Land. „Die Sprache war verblüffend direkt – kurz und knackig.“ So umfasst die Drucksache 619 der ersten Wahlperiode lediglich einen einzigen Satz: „Der Artikel 102 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wird aufgehoben.“ Die wenigen Worte sind der Gesetzesantrag zur Wiedereinführung der Todesstrafe. Ausführliche Begründungen, tiefgehende Erörterungen gab es nicht.
In früheren Legislaturperioden weniger Drucksachen
Insgesamt wurden in früheren Legislaturperioden weniger Drucksachen produziert als heute, weiß Brigitte Nelles vom Parlamentsarchiv der Bundestagsverwaltung. „Pro Wahlperiode fallen ungefähr 200 bis 250 Protokolle an. In den ersten Wahlperioden kamen 3.000 bis 6.000 Drucksachen hinzu. Dies änderte sich in den zweistelligen Bereich ab der zwölften Wahlperiode. Aktuell sind wir auch schon wieder bei 12.000 Drucksachen.“
Im Internetangebot des Bundestages konnten Nutzer bisher in den Dokumenten von 1976 bis heute online nachlesen. Der große Unterschied zu dem jetzt verfügbaren Online-Angebot ist die Durchsuchbarkeit der Dokumente und der Lückenschluss zu den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland. Peter Land spricht von „historischen Quellen hohen Ranges“. Die 1,25 Millionen eingescannten Seiten offenbarten die Wurzeln des deutschen Parlamentarismus. Das Angebot des Deutschen Bundestages richte sich vor allem an Bürger, die an historischen Vorgänge interessiert sind oder den Willen der Gesellschaft erörtern wollen, erklärt Land. Denn es zeige die deutsche Demokratie ungeschminkt – lückenlos und authentisch.
„Hervorragender Fortschritt“
In der Pressekonferenz erläuterte Prof. Dr. Michael Seadle, geschäftsführender Institutsdirektor und Dekan der Phiosophischen Fakultät I an der Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaften) die wissenschaftliche Bedeutung dieser Digitalisierung.
Zwar gebe es noch immer Wissenschaftler, die Dokumente lieber auf Papier lesen, doch arbeiteten sie auch gerne effizient. Wenn sie Informationen am Desktop abrufen könnten und nicht in Bibliotheken gehen müssten, sei dies ein großer Vorteil. Seadle unterstrich die Transparenz im Zugang, dass eine komplexe Suche ermöglicht wird und auch für Sehbehinderte durch Barrierefreiheit ein „hervorragender Fortschritt“ erzielt worden sei. (ldi/vom/27.02.2013)