Der Bundestag hat sich am Donnerstag, 16. Mai 2024, in einer Plenardebatte mit dem Thema „75 Jahre Grundgesetz“ befasst. Grundlage waren zwei Vorlagen der CDU/CSU-Fraktion. Einen Antrag mit dem Titel „Verfassung und Patriotismus als verbindendes Band stärken – Tag des Grundgesetzes am 23. Mai als Gedenktag aufwerten“ (20/6903) wies das Parlament auf Grundlage einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat (20/11417) ab.
Einen weiteren Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel „75 Jahre Grundgesetz – Unsere parlamentarische Demokratie bewahren und sicher für die Zukunft aufstellen“ (20/11377) überwiesen die Abgeordneten zur federführenden Beratung an den Rechtsausschuss.
Union sieht demokratische Grundordnung unter Druck
Andrea Lindholz (CDU/CSU) machte deutlich, dass sich das Grundgesetz als tragfähiges und strapazierbares Fundament der Gesellschaft bewährt habe. „Es ist unsere gemeinsame deutsche Erfolgsgeschichte“, sagte sie. Gleichwohl stehe die freiheitliche demokratische Grundordnung unter Druck. So sei es erschreckend, mit der AfD eine Partei im Bundestag zu haben, die als rechtsextremistischer Verdachtsfall vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Deren Vertreter bewahrten „weder den Rechtsstaat noch das Grundgesetz“. Erschütternd sei es auch, dass Politiker und Wahlhelfer beim Aufhängen von Wahlplakaten niedergeschlagen werden.
Inakzeptabel nannte es die CSU-Abgeordnete, wenn sich Menschen auf der Straße antisemitisch äußerten. Alarmierend sei es, dass ein Teil der hier lebenden Bevölkerung die Werte der freiheitliche demokratische Grundordnung nicht als die ihren akzeptiert, und ein Kalifat in Deutschland fordert. „Dem müssen wir uns als Parlament und als Gesellschaft entgegenstellen und ihm mit allen rechtsstaatlichen Möglichkeiten begegnen“, forderte Lindholz.
SPD: Grundgesetz kann sich wehren
Dirk Wiese (SPD) nannte das Grundgesetz zu Beginn seiner Rede „75 Jahre jung“. Was im Grundgesetz stehe, habe an Aktualität und Wichtigkeit nichts verloren, betonte er. „Was in diesem kleinen Buch steht, regelt alles, was für ein respektvolles Miteinander und für ein Zusammenleben der Menschen im Land notwendig ist.“
Angesichts der Tatsache, dass es immer mehr Menschen in Deutschland gebe, die die Demokratie und den Rechtsstaat in Frage stellen, müsse deutlich gemacht werden, „dass dieses Grundgesetz sich auch wehren kann, dass es Abwehrkräfte hat“, sagte Wiese. Wer in Deutschland ein Kalifat oder einen Führerstaat fordere oder von einem Königreich fasle, wollte die ihm von der Verfassung eingeräumten Rechte nutzen, „um diese Verfassung zu stürzen“.
AfD will mehr Volksabstimmungen
Stephan Brandner (AfD) warf den „Altparteien“ vor, den Grundrechteteil im Grundgesetz zunehmend als störend zu empfinden. Beleg dafür seien unter anderem die Corona-Einschränkungen. „Wir von der AfD halten das Grundgesetz für existenziell für diese Demokratie. Wir sind die Demokraten“, sagte er. Die anderen Parteien wollten die oppositionelle AfD vernichten, so Brandner. Geheimdienste, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst würden auf seine Partei „gehetzt“. Dies offenbare den erbärmlichen Zustand der Demokratie in Deutschland heute.
Brandner sprach sich des Weiteren für mehr direktdemokratische Elemente in der Politik aus. „Wir brauchen mehr Volksabstimmungen, eine echte Gewaltenteilung und eine freie, selbstbewusste und unabhängige Justiz“, sagte er.
Grüne: Grundgesetz ist unser politischer Kompass
„Das Grundgesetz ist das Fundament unserer Gesellschaft, unser politischer Kompass“, sagte Schahina Gambir (Bündnis 90/Die Grünen). Akzeptanz und Achtung des Grundgesetzes seien in Deutschland sehr hoch. Gleichzeitig sinke aber das Vertrauen in politische Institutionen. „Zum Jubiläum des Grundgesetzes müssen wir uns daher die Frage stellen, wie wir die Stabilität unserer Verfassungsordnung bewahren können“, sagte Gambir. Patriotismus, so die Grünen-Abgeordnete weiter, sei aber kein geeignetes Bindeglied zur Schaffung von Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Verfassungen mit nationaler Symbolik zu überladen, berge das Risiko einer Instrumentalisierung durch autoritär populistische Kräfte in sich. Stattdessen werde eine „lebendige und resiliente Verfassungskultur“ benötigt.
FDP: Wenige, aber stark einklagbare Grundrechte
Linda Teuteberg (FDP) erinnerte daran, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes ganz bewusst die Menschenwürde nach vorn gesetzt hätten. Dabei müsse man sich bewusst machen, „dass nicht alles, was einem nicht gefällt, gleich eine Verletzung der Menschenwürde ist“, sagte Teuteberg. Ganz bewusst verzichte das Grundgesetz auch auf eine Inflation von Staatszielbestimmungen und sozialen Grundrechten. Stattdessen bestimme die Verfassung „wenige, aber dafür stark einklagbare Grundrechte“.
Die FDP-Abgeordnete sagte weiter, in den letzten Jahren sei die Freiheit „unter Verdacht geraten“. Die Rede sei von der Aktualisierung des klassischen Freiheitsbegriffes und der Definition einer neuen echten Freiheit. „Das ist gefährlich“, warnte Teuteberg.
Linke: Grundgesetz gegen seine Feinde verteidigen
Das Grundgesetz müsse gegen seine Feinde verteidigt werden, betonte Clara Bürger (Gruppe Die Linke). Mit Blick auf die AfD sagte sie weiter: „Es sind die Feinde der Demokratie, hier rechts außen, die das wichtigste Prinzip der Demokratie nicht nur in Frage stellen, sondern gezielte Angriffe auf unsere Demokratie betreiben.“
BSW sieht freie Meinungsäußerung in Gefahr
Dr. Sahra Wagenknecht (Gruppe BSW) stellte infrage, ob es denn eine liberale Demokratie sei, „wenn eine Mehrheit inzwischen Sorge hat, ihre Meinung frei zu äußern und der Mehrheitswille bei Migration, Rente oder bei Energie für die Regierung offenbar völlig belanglos ist“.
75 Jahre Grundgesetz sei weniger ein Tag für Feiern in elitären Kreisen, befand sie. „Es sollte uns eine Mahnung sein, den Respekt vor der Meinungsvielfalt und dem Sozialstaats- und Friedensgebot unserer Verfassung wieder Rechnung zu tragen“, sagte Wagenknecht.
Abgelehnter Antrag der Union
Die CDU/CSU-Fraktion will „Verfassung und Patriotismus als verbindendes Band stärken“ und den „Tag des Grundgesetzes am 23. Mai als Gedenktag aufwerten“. In ihrem aus dem Mai 2023 stammenden Antrag (20/6903) forderte die Fraktion die Bundesregierung auf, den „Tag des Grundgesetzes“ ab dem 23. Mai 2024 als jährlichen nationalen Gedenktag zu begehen. In dessen Rahmen soll der Bundeskanzler dem Antrag zufolge künftig jährlich eine „Rede zur Lage der Nation“ halten.
Auch sollte die Bundesregierung nach dem Willen der Unionsfraktion ein „Bundesprogramm Patriotismus“ entwickeln, das sicherstellt, dass der „Tag der Deutschen Einheit“ am 3. Oktober „von deutlich mehr Bürgern als ein verbindender nationaler Erlebnismoment und nicht schlicht nur als ,freier Tag' erlebt wird“.
Ebenso sollte das geforderte Bundesprogramm laut Vorlage sicherstellen, dass die „ganzjährige Sichtbarkeit nationaler Symbole – insbesondere der Bundesflagge – im öffentlichen Raum erhöht wird“ sowie die Nationalhymne häufiger bei öffentlichen Anlässen gesungen und „weiter als fester Bestandteil des deutschen Liedguts gepflegt wird“.
Öffentliche Gelöbnisse und Appelle der Bundeswehr
Daneben sollte die Bundeswehr laut Vorlage vermehrt Gelöbnisse und Appelle aus besonderen Anlässen im öffentlichen Raum abhalten. Zugleich wollte die Fraktion mit dem gewünschten Bundesprogramm sichergestellt sehen, „dass der Reichstag in Zusammenarbeit mit dem Bundestag als parlamentarisches Zentrum patriotischer Selbstvergewisserung gestärkt wird“.
Ferner drang sie in dem Antrag darauf, „dass insbesondere in Ostdeutschland der zum Teil fehlende Bezug zur eigenen Nation, der unmittelbar nach der Wiedervereinigung ein viel stärkeres gesamtdeutsches Zusammengehörigkeitsgefühl hätte begründen können, als eine Schwachstelle der Wiedervereinigung aufgearbeitet wird, aus der sich nunmehr ein besonderer Einsatz für patriotische Fragen in Ostdeutschland ergeben muss“.
„Identifikation mit dem deutschen Staat stärken“
Zudem sprachen sich die Abgeordneten dafür aus, dass auch hierzulande lebende Ausländer von den „verbindenden und einladenden Potenzialen des Patriotismus angesprochen werden und ihre Identifikation mit dem deutschen Staat gestärkt wird“.
Darüber hinaus plädierte die Fraktion unter anderem dafür, dass „ein erfolgreiches Werben für wünschenswerten Patriotismus nicht durch ein undifferenziertes Kämpfen gegen einen – fraglos unerwünschten – Nationalismus im Keim erstickt wird“.
Zweiter Antrag der Union
In ihrem zweiten, neuen Antrag (20/11377) fordert die Unionsfraktion Präsidium und Ältestenrat des Bundestages auf, Vorschläge für eine verbesserte öffentliche Wahrnehmbarkeit des Parlaments vorzulegen und die Informations- und Bildungsangebote des Bundestages auszuweiten, um mehr jungen Menschen die Vorzüge der parlamentarischen Demokratie zu vermitteln. Auch erwartet die Fraktion Vorschläge für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Mandat vorzulegen, um Familienmüttern und -vätern die Mitwirkung im Parlament zu erleichtern.
Die Fraktion regt darüber hinaus Reformen des Verfassungs-, Gesetzes- und Geschäftsordnungsrechts an. Dazu zählt eine geschäftsordnungsrechtliche Reform des Fragewesens mit dem Ziel, dass mündliche Fragen in der Regel im Zusammenhang von Fachausschusssitzungen behandelt werden, um damit mehr Raum für grundlegende Debatten im Plenum des Bundestages zu gewinnen und mehr mündliche Fragen in jeder Sitzungswoche behandeln zu können.
Auch sollten punktuelle staatsorganisationsrechtliche Ergänzungen getroffen werden, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments und anderer Verfassungsorgane in Notsituationen auch jenseits des Verteidigungsfalls sicherzustellen. Die verfassungsrechtliche Rolle der Fraktionen will die Fraktion stärken. Das Fünf-Prozent-Quorum als Voraussetzung für die parlamentarische Mitwirkung etwa durch Anträge und in der Ausschussarbeit solle hervorgehoben werden. In Angelegenheiten der Europäischen Union und der föderalen Koordinierung will die Fraktion die Rolle des Bundestages stärken, vor allem durch ein effektiveres Berichts- und Unterrichtungswesen und dessen rechtliche Normierung im Kontext von Konferenzen der Regierungschefs der Länder und des Bundes. (hau/sto/vom/16.05.2024)