Rede von George Bush, ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Herr Bundeskanzler Schröder,
verehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und natürlich liebe Kollegen Altbundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow,
verehrte Anwesende
Eine kurze Weile war ich im amerikanischen Kongress und eine kurze Weile war ich im Weißen Haus, und seit jeher liebe ich den Geist der Harmonie und Liebenswürdigkeit und das Leuchten, wie ich es heute in diesem Hohen Hause vorfinde, so dass ich es am liebsten modellieren und mit heimnähme in unseren Kongress und ins Weiße Haus, so schön ist es.
Ich empfinde es als hohe Auszeichnung, an diesem Ort ein paar persönliche Erinnerungen an die historischen Ereignisse vor zehn Jahren wachrufen zu dürfen.
Lassen Sie mich jedoch voranschicken, wie sehr ich mich freue, auch meinen geschätzten Freund Michail Gorbatschow hier anzutreffen. In fast drei Jahren bemerkenswerter Veränderungen haben wir zusammengearbeitet, und als er an Weihnachten 1991 sein Amt abgab, ging es mir wie Präsident Eisenhower beim Abschied Winston Churchills. In seinen Erinnerungen schrieb Eisenhower darüber: „Als er die Insignien seines hohen Amtes ablegte, war mir, als zerbräche eine Partnerschaft, die mir ans Herz gewachsen war, doch das konnte und kann niemals die Zuneigung und Bewunderung schmälern, die ich für ihn persönlich hege.“ Mir ergeht es heute nicht anders, und ich bin sicher, dass die Geschichte Michail Gorbatschow freundlich behandeln wird. Er ist der Architekt von Glasnost und Perestrojka, jener Zielsetzungen, die das gemeinsame Haus Europa, von dem er vor zehn Jahren sprach, zu bauen halfen, indem er das Recht auf Selbstbestimmung einräumte.
Für jeden, der öffentliche Verantwortung trägt - und das gilt bestimmt für jedes Mitglied dieser erlauchten Versammlung -, kann Politik ein hartes, ja niedriges Geschäft sein. In einer Rede vor dem Reichstag im Jahre 1880 hat Otto von Bismarck einmal gesagt, jeder Deutsche halte sich für berechtigt und mache sich einen Sport daraus, die Regierung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Nun denn, sechseinhalb Jahre nach Aufgabe der Präsidentschaft kann ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, versichern, dass es in Amerika nicht anders ist.
Blicke ich auf meine vier Jahre als Präsident der Vereinigten Staaten zurück, so kann ich auf vieles verweisen, was schwer war und mich hart ankam - und die Operation Wüstensturm zählte mit Sicherheit dazu. In keiner Situation aber standen die Dinge auch nur entfernt so auf Spitz und Knopf wie in jener, der wir am 9. November 1989 gegenüberstanden. Gewiss hatte sich im Sommer 1989 der Gezeitenstrom der Geschichte zugunsten der Freiheit gewendet, so dass wir, als der Herbst ins Land zog, wohl alle darauf vorbereitet waren, mitzuerleben, wie „die Welt zur Geschichte erwacht“, wie es in einem schönen Lied heißt. Der Wandel lag in der Luft, und fast über Nacht fingen die Menschen in Ost- und Mitteleuropa an, sich der Fremdherrschaft zu erwehren, die ihrer Gesellschaft aufgepfropft worden war. Nach einem Goethe-Wort gehen große Revolutionen nie auf Fehler der Menschen, sondern stets der Regierung zurück. Und so war es auch im November 1989, wenngleich nur wenige Regierende es kommen sahen, wenn überhaupt. Die Menschen auf der Straße waren dabei, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und einen neuen, selbstgewählten Weg zu beschreiten.
Vermutlich wissen alle in diesem Saal, wo sie sich heute vor zehn Jahren befanden, als sie zum ersten Mal die unglaubliche Neuigkeit vernahmen. Ich selbst saß an meinem Schreibtisch im Oval Office, als mein treuer und so verdienter Sicherheitsberater Brent Scowcroft hereinkam und mir sagte, in den Nachrichten heiße es, die Mauer sei aufgegangen. Sofort begaben wir uns in den kleinen Raum gleich nebenan, schalteten den Fernseher ein und sahen die in Berlin jubelnden Mengen. Es fiele schwer zu beschreiben, welche Gefühle mich da bewegten, als ich zusah, wie sich Deutsche jeglichen Alters an und auf der Mauer versammelten.
An dieser Mauer hatte ich als Vizepräsident gestanden, und mein Freund Helmut Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker zeigten mir die Stellen, wo junge Ostdeutsche erschossen worden waren, weil sie in die Freiheit flüchten wollten. Und im Februar 1983 hatte ich mit meinem lieben Freund Manfred Wörner, den wir alle schmerzlich vermissen, ein Städtchen besucht, dessen Mitte der Stacheldrahtzaun durchtrennte, der ganz Deutschland spaltete. Jetzt aber, sechs Jahre später, war ich Präsident der Vereinigten Staaten und sah zu, wie die so lange unmöglich erschienenen Hoffnungen und Träume der Menschheit vor meinen Augen Wirklichkeit wurden. Es war ein nachgerade surrealistisches Bild, das Dalí gemalt haben könnte. Dann aber überfiel uns die Erkenntnis, wessen Ereignisses Zeuge wir wurden. Der Damm war gebrochen, die Freiheit schäumte geradezu in Kaskaden über die Mauer.
Kurze Zeit später kam mein Pressesekretär Marlin Fitzwater mit weiteren Nachrichten und schlug vor, ich solle eine Erklärung vor der Presse abgeben. Das schien sich aufzudrängen, doch obwohl ich überglücklich war über das, was ich sah, musste ich mich vor übereilten Kommentaren hüten. Zwar häuften sich die Nachrichten immer mehr, aber die Berichte waren noch nicht bestätigt. Wichtiger noch: Ich wusste, wie vorsichtig wir unsere Reaktion auf die frohe Nachricht formulieren mussten. Ich musste bedenken, welcher Druck auf den Schultern unseres Freundes Michail Gorbatschow lastete. Ich wusste, dass dies nicht der Augenblick zu hämischen Bemerkungen über etwas war, was viele im Westen später als Niederlage Russlands ausgaben. So galt es denn, Vorsicht walten zu lassen. Deswegen äußerte ich in der kurzen, improvisierten Pressekonferenz im Oval Office zwar meine Freude, enthielt mich aber wohl überlegt jeder Häme.
In meinem Hinterkopf bedrängten mich die Sorgen über ein Zurückschlagen der Hardliner, und darum waren meine Antworten auf die von den Medien berichteten Neuigkeiten vorsichtig positiv, zwar nicht zögerlich, aber doch überlegt. Was die Kritiker beim Anblick der unbeschreiblich frohen Ereignisse nicht verstanden, wissen wir heute, zehn Jahre danach: Dass nämlich ein arroganter Zug unsererseits die Freude hätte zunichte machen und das Anliegen, auf das so viele Menschen hingearbeitet, für das sie ihr Blut und manche ihr Leben geopfert hatten, einen schweren Rückschlag erleiden konnten. Dennoch hatten führende Köpfe bei uns im Kapitol verlangt, ich solle mich aufmachen zur Mauer in Berlin und auf ihr mit den Studenten tanzen. Das aber wäre nach meiner Meinung einer offenen Provokation gleichgekommen, als drückten wir den sowjetischen Militärs geradewegs die Finger ins Auge. Also hielten wir uns zurück, und ich halte das bis heute für richtig.
Nun aber, zehn Jahre später und nach einiger Überlegung hoffe ich, dass es nicht anmaßend ist, wenn ich meine, dass der Grund, warum sich die Dinge entwickelten, wie es geschah, der Grund, warum das Ringen der Supermächte buchstäblich ohne einen Schuss zu Ende ging, der Grund, warum Deutschland in Frieden und Demokratie vereinigt wurde, zum großen Teil darin lag, dass sich die Handelnden auf der Bühne kannten. Und - Helmut Kohl wird mir gewiss zustimmen -, dass wir drei uns respektierten.
Doch nicht zu vergessen, und meine Vorredner riefen es uns beredt ins Gedächtnis: Es waren nicht die Regierenden in Bonn oder Washington oder Moskau, sondern die Menschen auf der Straße, die das alles überhaupt in Gang setzten. Dennoch fiel es letztlich uns Regierenden zu, auf die dadurch möglich gewordenen Ereignisse zu reagieren und ihren Ausgang zu gestalten. Ganz einfach gesagt, befanden wir uns in einem heiklen Tanz. Mehr als Worte zu beschreiben vermögen, kam uns dabei zu Hilfe, dass wir Amerikaner uns rückhaltlos auf Helmut Kohl und seine fähige Mannschaft verlassen konnten, und dass wir beide, Helmut und ich, fest an das Engagement Michail Gorbatschows glaubten, der damals unter unglaublichem Druck stand, an sein unbeugsames Engagement für Reformen. Immer noch stellte sich uns, auf jeden Fall mir, zu Recht oder zu Unrecht, die bange Frage, ob die Armee eingreift, ob wir uns einem weiteren Prager Frühling gegenübersähen. Wir wussten es nicht, doch schließlich ging alles gut aus.
Darum können wir heute feiern, heute, an diesem strahlenden Tag. Gutes kommt zu dem, der zu warten vermag, sagt ein Sprichwort. Welch große Freude, diesen besonderen Tag an der Seite meiner früheren Kollegen verbringen zu können. Vielleicht genügt es, wenn ich sage, dass Barbara und ich verstehen, welche Gefühle John Kennedy 1963 nach seinem triumphalen Besuch hier bewegten, als die Air Force One am Nachmittag in den Himmel stieg. Körperlich völlig ausgelaugt, aber geistig beflügelt sagte Kennedy damals: „Einen Tag wie diesen werden wir unser Lebtag nicht mehr erleben.“ Genau so empfinden es Barbara und ich heute.
Möge Gottes Segen auch weiterhin das freie, vereinigte, demokratische Deutschland begleiten.
Ich danke Ihnen von Herzen.