Saul Friedländer: Existenzrecht Israels zu verteidigen ist moralische Verpflichtung
„Das Existenzrecht Israels zu verteidigen ist meiner Überzeugung nach eine grundsätzliche moralische Verpflichtung.“ Prof. Dr. Dres. h. c. mult. Saul Friedländer sagte in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus, dies müsse in einer Zeit wieder betont werden, „in der auf Seiten der extremen Rechten und auf Seiten der extremen Linken Israels Existenz infrage gestellt wird und der Antisemitismus in seinem traditionellen wie in seinem neuen Gewand wieder unübersehbar zunimmt“. In seiner Gedenkrede am Donnerstag, 31. Januar 2019, bezeichnete der 86-jährige israelische Historiker und Holocaust-Überlebende den heutigen Hass auf Juden als „irrational, wie er schon immer war“.
Alte und neue Verschwörungstheorien seien vor allem bei den Rechtsradikalen im Umlauf, während die antisemitische Linke die israelische Politik obsessiv angreife und dabei zugleich das Existenzrecht Israels infrage stelle. „Selbstverständlich ist es legitim, die israelische Regierung zu kritisieren, aber die schiere Heftigkeit und das Ausmaß der Angriffe sind schlicht absurd und enthalten den Beigeschmack eines nur dürftig verhüllten Antisemitismus“, sagte Friedländer unter großem Beifall.
Erinnerung an die Befreiung von Auschwitz
Die Gedenkstunde fand aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus statt, der seit 1996 immer am 27. Januar begangen wird. Im Beisein von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Bundesratspräsident Daniel Günther, des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. h. c. Andreas Voßkuhle, und zahlreicher Ehrengäste sagte Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble:
„Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Und wir gedenken heute der Menschen, die dort und an den anderen Orten des von Deutschen europaweit geführten Vernichtungskrieges ermordet wurden. Der Millionen, die öffentlich erniedrigt, diffamiert und entrechtet wurden, beraubt, seelisch und physisch gequält, die verfolgt, aus ihrer Heimat vertrieben – ermordet wurden: Der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, der Opfer staatlicher Euthanasie, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der dem Hungertod ausgelieferten Kriegsgefangenen. Und all der anderen Menschen, die wegen ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugungen Verfolgung erlitten.“
„Ein von Grund auf verändertes Deutschland“
Professor Friedländer sieht den Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und einen sich immer weiter verschärfenden Nationalismus überall auf der Welt „in besorgniserregender Weise“ auf dem Vormarsch. Sowohl vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn im Oktober 2007 als auch nach der Bitte, vor dem Bundestag zu sprechen, habe er zunächst gezögert und dann zugesagt: „Warum? Weil ich wie viele Menschen weltweit im heutigen Deutschland ein von Grund auf verändertes Deutschland sehe.“
Dank seiner langjährigen Wandlung seit dem Krieg sei Deutschland eines der starken Bollwerke gegen die genannten Gefahren geworden. Friedländer verband sein Kompliment mit einem Appell: „Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum, für die wahre Demokratie zu kämpfen.“
Eltern in Auschwitz ermordet
Als Kind deutschsprachiger jüdischer Eltern in Prag geboren, konnten Friedländers Eltern mit ihrem sechsjährigen Sohn 1939 noch die Tschechoslowakei verlassen und nach Paris ausreisen. Ein Jahr später ging es in einen kleinen Kurort in Zentralfrankreich, dem damals unbesetzten Teil des Landes, auch Vichy-Frankreich genannt, wo sie bis Sommer 1942 blieben. Dann begannen nach den Schilderungen Friedländers auch im nicht besetzten Frankreich die Verhaftungen durch die französische Polizei.
Seine Eltern hätten über die Alpen in die Schweiz entkommen wollen, fanden das Wagnis, den Sohn mitzunehmen, aber zu riskant. Sie brachten ihn zunächst in einem Kinderheim unter. Dass er dort nicht von der französischen Polizei mitgenommen wurde, sei nur dem Umstand zu verdanken gewesen, dass er noch keine zehn Jahre alt war. Die Eltern brachten ihn danach in einem katholischen Knabenseminar unter. Sie selbst wurden von der Schweizer Polizei aufgegriffen, der französischen Polizei ausgeliefert, am 3. November 1942 „mit dem Transport Nr. 40 nach Auschwitz deportiert“ und dort ermordet.
„Eine Heimat, ein Gefühl von Zugehörigkeit“
Friedländer kam im Juni 1948, „fünf Wochen nach der Staatsgründung“, in Israel an. „Für mich, und für meine Generation europäischer Juden – was von ihr übriggeblieben war – bedeutete Israel damals eine Heimat, ein Gefühl von Zugehörigkeit, und das ist es für mich letztlich bis zum heutigen Tag, ungeachtet meiner Kritik an der Politik seiner Regierung.“
Als Wissenschaftler erforschte Friedländer hauptsächlich die Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere das Schicksal der europäischen Jüdinnen und Juden. „Für die meisten Juden war das, was ihnen bevorstand, unvorstellbar, selbst angesichts untrüglicher Vorzeichen“, sagte er. Die Juden, der „Inbegriff alles Bösen“, seien zwar die bevorzugten Opfer des Regimes gewesen: „Aber auch andere Gruppen wurden gnadenlos ermordet: die Behinderten, die Sinti und Roma, die sowjetischen Kriegsgefangenen.“
„Geschichte ist nicht loszulösen von ihrem historischen Ort“
Bundestagspräsident Schäuble würdigte Friedländer mit den Worten, dessen Werk gewinne seine besondere Kraft aus der spannungsvollen Beziehung zwischen der abstrakten statistischen Darstellung der Verwaltungs- und Mordmaßnahmen und den lebendigen Erinnerungen der Zeitzeugen. Friedländer spreche von der sowohl universellen Bedeutung als auch historischen Besonderheit des Holocausts.
Schäuble: „Gerade für uns Deutsche gilt: Diese Geschichte ist nicht loszulösen von ihrem historischen Ort, von den Fakten, von den Opfern, vom Land der Täter, von den Bedingungen, die den Mord an den europäischen Juden ermöglichten – zumal schon heute bei jungen Menschen das Wissen darüber schwindet.“
„Immer noch gefährliche Stereotype und Vorurteile“
Geschichte zu vergegenwärtigen sei umso mehr Verpflichtung, „als wir erkennen müssen, dass es auch in unserer Gesellschaft noch immer gefährliche Stereotype und Vorurteile gibt, Ausgrenzung und Diskriminierung, einen Antisemitismus in unterschiedlichem Gewand, den alten und auch einen neu zugewanderten. Beides ist inakzeptabel – erst recht in Deutschland“, sagte Schäuble. „Es beschämt uns, dass Juden wieder mit dem Gedanken spielen, auszuwandern, weil sie sich in unserem Land nicht sicher fühlen, weil sie Anfeindungen ausgesetzt sind, sogar tätlichen Angriffen, weil jüdische Kinder in der Schule angepöbelt und gemobbt werden.“
Scham allein reiche nicht, es brauche neben der Härte der Gesetze vor allem im Alltag „unsere Gegenwehr gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aller Art“, fügte der Bundestagspräsident unter großem Beifall hinzu und zitierte Saul Friedländer: „Humanität, Toleranz. … Das ist die einzige Lektion: uns menschlich zu verhalten.“ Schäuble: „Anders ausgedrückt: Mit-Mensch zu bleiben – darauf kommt es auch heute an!“
Musik von Erwin Schulhoff und Viktor Ullmann
Umrahmt wurde die Gedenkstunde mit Musik des tschechischen Komponisten Erwin Schulhoff (1894-1942) und des österreichischen Komponisten Viktor Ullmann (1898-1944). Das 1999 gegründete Bennewitz-Streichquartett aus Prag mit Jakub Fišer (Violine), Štěpán Ježek (Violine), Jiří Pinkas (Viola) und Štěpán Doležal (Violoncello) spielt „Alla Tango milonga“ (Andante, Nr. 4) aus den Fünf Stücken für Streichquartett aus dem Jahre 1923 von Erwin Schulhoff sowie das Streichquartett Nr. 3 opus 46 (Allegro moderato. Largo. Allegro vivace e ritmico) von Viktor Ullmann aus dem Jahr 1943.
Erwin Schulhoff wurde nach der deutschen Besetzung des tschechischen Teils der Tschechoslowakei 1939 als Jude entlassen und erhielt 1941 die vermeintlich rettende sowjetische Staatsbürgerschaft. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde er als „Bürger eines Feindstaates“ verhaftet und starb im August 1942 im Internierungslager Wülzburg (Bayern) an Tuberkulose.
Viktor Ullmann, der sich erst durch die Verfolgung der jüdischen Wurzeln seiner Familie bewusst geworden sein soll, wurde 1942 in Theresienstadt interniert. Die meisten seiner dortigen Lagerkompositionen wurden gerettet. Am 16. Oktober 1944 wurde Ullmann nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet. (vom/31.01.2019)