Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag am Donnerstag, 16. Februar 2017. die Reform der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) beschlossen. Die Oppositionsfraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen enthielten sich. Der Gesetzentwurf (18/10186) war in den Beratungen im Gesundheitsausschuss (18/11205) mehrfach verändert sowie um Regelungen ergänzt worden, die mit dem eigentlichen Thema unmittelbar nichts zu tun haben.
Die Heil- und Hilfsmittelreform zielt darauf ab, mehr Qualität und Transparenz in diesen Markt zu bringen. Mit dem Gesetz wird der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) dazu verpflichtet, bis Ende 2018 das Hilfsmittelverzeichnis zu aktualisieren. Zudem soll der Spitzenverband bis Ende 2017 eine Systematik schaffen, um das Verzeichnis auch künftig aktuell zu halten.
Preis und qualitative Anforderungen entscheidend
Die Krankenkassen müssen bei ihren Vergabeentscheidungen künftig neben dem Preis auch qualitative Anforderungen an die Hilfsmittel gleichwertig berücksichtigen. In bestimmten Fällen, wo es um individuell anzupassende Hilfsmittel mit einem hohen Dienstleistungsanteil geht, werden Ausschreibungen ganz ausgeschlossen. Zudem werden die Krankenkassen auch bei Ausschreibungen dazu verpflichtet, den Patienten eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen mehrkostenfreien Hilfsmitteln einzuräumen.
Bei der Hilfsmittelversorgung müssen die Krankenkassen die Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Pflichten der Anbieter kontrollieren. Dazu sind Stichproben vorgesehen. Ferner müssen Anbieter die Versicherten künftig beraten, welche Hilfsmittel und zusätzlichen Leistungen für sie geeignet sind und von den Krankenkassen als Regelleistung bezahlt werden. Die Anbieter werden verpflichtet, die Höhe der Mehrkosten anzugeben. Die Krankenkassen sollen die Versicherten zudem besser über ihre Rechte bei der Hilfsmittelversorgung beraten.
Befristet kann höhere Vergütung beschlossen werden
Um die Therapieberufe (Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Podologie) attraktiver zu machen, können die Krankenkassen und Verbände der Heilmittelerbringer in den Jahren 2017 bis 2019 eine höhere Vergütung beschließen. Diese Regelung ist befristet, um die Auswirkungen zu überprüfen.
Heilmittelerbringer sollen künftig außerdem über sogenannte Blankoverordnungen stärker in die Verantwortung genommen werden. So wird das Heilmittel weiter vom Arzt verordnet, der Heilmittelerbringer bestimmt aber die Auswahl, Dauer und Abfolge der Therapie. Nach Auswertung von Modellprojekten soll dann entschieden werden, ob diese Variante in die Regelversorgung übernommen wird.
Regelung zum Morbi-Risikostrukturausgleich
Mit in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde eine Regelung zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) der Krankenkassen. So wird gesetzlich klargestellt, dass sich Krankenkassen oder Ärzte über eine unzulässige Beeinflussung von Diagnosen keine finanziellen Vorteile verschaffen dürfen.
Anlass für die gesetzliche Initiative sind Strategien der Krankenkassen, über bestimmte Diagnosen die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhöhen. Dazu versuchen die Kassen, auf die Diagnosekodierung der Ärzte Einfluss zu nehmen.
„Rechtswidrige Vertragsgestaltungen beenden“
Rechtswidrige Vertragsgestaltungen sollen beendet werden. Die Krankenkassen werden zur Mitwirkung bei der Aufklärung von Zweifelsfällen verpflichtet. Verweigern sie dies, kann das Bundesversicherungsamt (BVA) ein Zwangsgeld von bis zu zehn Millionen Euro verhängen. Um Auffälligkeiten bei den Krankenkassendaten besser zu erkennen, soll ab 2018 der RSA auch mit Hilfe einer regionalen Zuordnung der Patienten analysiert werden.
Der Gesetzentwurf zur Heil- und Hilfsmittelreform beinhaltet noch weitere themenfremde Regelungen etwa zum Krankengeldanspruch in speziellen Fällen, zur Beitragsbemessung für Selbstständige und zur Sozialversicherungspflicht von Ärzten, die zusätzlich im notärztlichen Rettungsdienst aktiv sind.
„Überfällige Reaktion auf unhaltbare Zustände“
In der Schlussberatung würdigten Redner von Koalition und Opposition den Gesetzentwurf als überfällige Reaktion auf unhaltbare Zustände, etwa im Bereich der Inkontinenzmittel. Roy Kühne (CDU/CSU) zeigte sich überzeugt, dass mit der Reform die Versorgung entscheidend verbessern werde. Die Heil- und Hilfsmittelerbringer hätten dies auch verdient. Künftig werde die Qualität zum Maßstab bei den Hilfsmitteln. So werde die Auftragsvergabe zu 50 Prozent an qualitative Aspekte gebunden.
Kühne räumte ein, dass auch die Heilmittelerbringer lange Zeit aus dem Blickfeld geraten seien. Hier sei die schlechte Bezahlung ein großes Problem. Es könne nicht sein, dass ein Automechaniker mehr wert sei als ein Menschenmechaniker. „Wir haben erkannt, dass die Vergütungssituation offensichtlich abschreckend ist.“ Das werde nun geändert.
SPD: Ein Meilenstein in der Hilfsmittelversorgung
Auch Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) sprach von einem wichtigen Gesetz, weil sich eine Fehlentwicklung breit gemacht habe. So würden teure Medikamente etwa in der Krebsbehandlung erstattet, aber wenn es um Hilfsmittel für bettlägerige Menschen gehe, werde zum Teil um Centbeträge gerungen. Dies sei unwürdig und eine Ungleichbehandlung, die viel zu lange hingenommen worden sei. Das Gesetz komme insofern „keine Minute zu früh“.
Was die Regelungen zum Morbi-RSA angehe, merkte Lauterbach an, es gehe um nicht weniger als das „Kernstück unseres gesetzlichen Wettbewerbs“ der Krankenkassen. Das Ausgleichssystem sei durch fragwürdige Verträge in Verruf geraten. Das sei nicht nur Betrug zwischen den Krankenkassen, sondern auch brandgefährlich für die Versicherten, die auf dem Papier falsche Diagnosen bestätigt bekämen. Mit dem Verbot solcher Verträge werde das gesamte System gerettet.
Martina Stamm-Fibich (SPD) sagte, es habe inakzeptable Vorkommnisse und Missstände im Bereich der Inkontinenzmittel gegeben. Mit der Reform werde nun erreicht, dass Ausschreibungen von Krankenkassen für Hilfsmittel in hochsensiblen Bereichen nicht mehr infrage kämen.
Sie betonte: „Krankenkassen dürfen nicht auf Kosten derjenigen sparen, die sich aus Scham nicht wehren können.“ Deshalb sei das Gesetz ein Meilenstein in der Hilfsmittelversorgung.
Linke: Auf solche Ausschreibungen ganz verzichten
Birgit Wöllert (Die Linke) sagte, die Reform sei dringend überfällig. Die Praxis habe „regelrecht danach geschrien, hier etwas zu ändern“. Für die unerträgliche Ausschreibungspraxis hätten die Krankenkassen teilweise „hanebüchene Erklärungen“ geliefert.
Sie sprach sich dafür aus, auf Ausschreibungen dieser Art ganz zu verzichten. Das Gesetz sei eine insgesamt gute Basis, müsse aber weiterentwickelt werden.
Grüne: Noch viel Potenzial nach oben
Das sehen die Grünen, die mit mehreren eigenen Anträgen scheiterten, ganz ähnlich. Maria Klein-Schmeink sagte, wenn Politik mit der Betrachtung der Wirklichkeit beginne, dann gebe es hier „noch viel Potenzial nach oben“.
So spiele bei der Versorgung mit Hilfsmitteln bisher der Preis die entscheidende Rolle, nicht die Lebenswirklichkeit der Menschen. Sie könne in dem nun auf 50 Prozent festgelegten Qualitätsanteil bei der Auftragsvergabe auch keinen Quantensprung erkennen. Nötig seien regelmäßige Befragungen der Verbraucher.
CDU/CSU: Unsäglichen Zustand mit mehr Qualität verbessern
Der CSU-Abgeordnete Erich Irlstorfer hielt der Opposition vor, die Kritikpunkte an diesem Gesetzentwurf „mit der Lupe“ zu suchen. Er räumte ein, dass es bei der Versorgung speziell mit Inkontinenzprodukten viele Ungereimtheiten gegeben habe und einen „Abwärtswettlauf“ bei den Ausschreibungen.
Dieser unsägliche Zustand solle nun mit mehr Qualität verbessert werden. Irlstorfer kündigte an: „Wir werden scharf prüfen, ob diese gesetzlichen Regeln in der Praxis auch umgesetzt werden.“
Entschließungsanträge der Linken abgelehnt
Der Bundestag lehnte zudem mit Koalitionsmehrheit zwei Entschließungsanträge der Linken zum Gesetzentwurf ab. Im ersten (18/11207), den auch die Grünen unterstützt hatten, forderte die Fraktion, auf die Befristung des Wegfalls der Grundlohnsummenbindung zu verzichten und die Modellversuchte zur Blankoverordnung in die Regelversorgung zu überführen. In der sogenannten Blanko-Verordnung wird der Linken zufolge ärztlicherseits nur die Diagnose vermerkt. Für die Versorgung der Patienten wäre mehr Kooperation von Ärzten und den Erbringern von Heilmitteln gut, heißt es weiter. Die Fraktion begrüßte zwar den Wegfall der Grundlohnsummenbindung, kritisierte aber deren Begrenzung auf drei Jahre.
Im zweiten Entschließungsantrag (18/11208), zu dem sich die Grünen enthielten, hatte Die Linke gefordert, Hilfsmittelausschreibungen abzuschaffen und durch Festbetragsregelungen zu gewährleisten, dass die Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis wirtschaftlich sind.
Anträge der Grünen abgelehnt
In einem Antrag (18/8399), den der Bundestag gegen das Votum der Opposition ablehnte, hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, die Branche der Heilmittelerbringer genauer zu analysieren. Eine solide Datenbasis sei nötig für mehr Transparenz in dem Berufsfeld, eine bessere Versorgungsplanung sowie zur Schaffung eines auskömmlichen Vergütungssystems, heißt es in der Vorlage.
Heilmittelerbringer werden nach Ansicht der Grünen angesichts zunehmender Volkskrankheiten wie Diabetes, Rückenleiden oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Gleichwohl sei die Datenlage zur Versorgung durch Heilmittelerbringer alles andere als ausreichend.
Die Grünen forderten konkret eine umfassende, detaillierte Branchenstudie sowie eine Arbeitsgruppe, die sich unter anderem mit Ausbildungsstandards, Qualitätssicherung, Versorgungsaspekten und Vergütungen befasst.
Heilmittel-Blankoverordnung
In einem weiteren Antrag (18/10247), der ebenfalls gegen das Votum der Opposition abgelehnt wurde, forderten die Grünen, dass die Heilmittelerbringer mehr Kompetenzen erhalten sollen. Die Abgeordneten monieren, die im Entwurf des HHVG enthaltenen Regelungen seien nicht ausreichend.
Konkret forderte die Fraktion, die so genannte Blankoverordnung in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu übernehmen sowie die Voraussetzungen für ein Modellvorhaben zur Erprobung des Direktzugangs im Heilmittelbereich zu schaffen.
Bei der Blankoverordnung stellen Ärzte nur die Diagnose und verordnen eine Behandlung. Die Heilmittelerbringer (Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Logopäden und Podologen) entscheiden dann selbst über die Therapie. Beim Direktzugang können sich die Patienten unmittelbar an einen Heilmittelerbringer wenden, ohne vorherige Verordnung durch einen Arzt.
Morbi-Risikostrukturausgleich
In einem dritten Antrag (18/10252), den die Koalitionsmehrheit bei Enthaltung der Linken zurückwies, hatten die Grünen die Bundesregierung aufgefordert, den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) zielgenauer zu gestalten. Der Finanzausgleich sei als lernendes System konzipiert. Die letzte umfassende Evaluation des Morbi-RSA sei 2011 veröffentlicht worden und basiere auf Daten von 2009. Somit sei eine erneute Überprüfung überfällig, heißt es in der Vorlage.
Es bestünden von den Krankenkassen nicht beeinflussbare, zum Teil erhebliche Über- und Unterdeckungen bei unterschiedlichen Versichertengruppen, die Reformbedarf bei der Zielgenauigkeit des Systems offenbarten. Da schon kleine Änderungen im Ausgleichssystem des Morbi-RSA erhebliche Verschiebungen der Finanzströme zur Folge haben könnten, müssten die verschiedenen Reformoptionen umfassend geprüft werden. Noch in dieser Wahlperiode sollen nach Meinung der Abgeordneten die dafür nötigen Voraussetzungen geschaffen werden.
Versorgung von Menschen mit Behinderungen
Schließlich lehnte der Bundestag gegen das Votum der Opposition einen weiteren Antrag der Grünen (18/3155) ab, der zum Ziel hatte, die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung menschenrechtskonform zu gestalten.
Die Grünen verlangten unter anderem, den Krankenkassen per Gesetz die Möglichkeit zu eröffnen, ihren Versicherten solche Arztpraxen zu empfehlen, „die in baulicher und fachlicher Hinsicht für eine barrierefreie gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Behinderung geeignet sind“. In die Vorschriften zur vertragsärztlichen Bedarfsplanung sollten konkrete Zielvorgaben zum Anteil barrierefreier Praxen mit aufgenommen werden. Die Barrierefreiheit sollte künftig verbindliches Kriterium bei der Neuzulassung von Arztpraxen und Heilmittelerbringern sowie bei der „Präqualifizierung von Hilfsmittelerbringern“ sein.(pk/nal/16.02.2017)