Beratung aus Anlass des Mords an Boris Nemzow
Die Fraktionen im Bundestag sorgen sich um das aufgeheizte innenpolitische Klima in Russland vor dem Hintergrund des Konflikts in der Ostukraine – und stellen einen Zusammenhang zum Mord an dem Oppositionspolitiker und früheren russischen Vizepremier Boris Nemzow am vergangenen Wochenende her. In einer auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD angesetzten Aktuellen Stunde zur „Auswirkung der Ermordung des russischen Politikers Boris Nemzow auf die Politik Russlands“ am Mittwoch, 4. März 2015, betonten Vertreter aller Seiten, wie wichtig es für das Land sei, diese Tat schnell und umfassend aufzuklären.
SPD: Eine künstlich aufgeheizte und aggressive Atmosphäre
Dr. Gernot Erler (SPD) sprach von einem Verlust für die Opposition aber auch für ganz Russland. Der SPD-Abgeordnete und Russland-Beauftragte der Bundesregierung erinnerte an Nemzows Reformbegeisterung als junger liberaler Politiker in den 1990er Jahren, zunächst als Gouverneur der Oblast Nischni Nowgorod, später als Vizepremier unter Präsident Boris Jelzin. Die Reformergeneration um Nemzow stehe aber auch für jene „tragische Entwicklung“, dass die Russen die „ersten Schritte zu Demokratie und Marktwirtschaft“ vor allem als Verlust ihrer sozialen Sicherheit erfahren hätten, sagte Erler. „Diese Schulterlast konnte die Reformergeneration nicht mehr abwerfen.“
Auch wenn es nichts bringe, sich derzeit an Spekulationen zu den Hintergründen der Tat zu beteiligen, so sei „doch mit Händen zu greifen“, dass dieser Mord in einer „künstlich aufgeheizten und aggressiven Atmosphäre“ in Russland begangenen wurde, in der Kritiker des Kremlkurses als „Nationalverräter“ und „fünfte Kolonne“ ins Abseits gestellt würden. Wo eine „unerklärter Krieg im Nachbarland“ geführt werde, würden Kritiker für „vogelfrei“ erklärt, sagte Erler mit Blick auf Russlands Politik in der Ukraine.
Linke fordert eine neue Ostpolitik
Wie Erler forderte auch Wolfgang Gehrcke (Die Linke) die schnelle Aufklärung der Tat. „Wenn dieser Mord nicht aufgeklärt wird, dann behält Russland eine offene Wunde.“ Gehrcke hielt es angesichts der bisherigen Unklarheiten zu den Hintergründen indes „nicht für klug, ein Klima zu bereiten“, in dem bereits jetzt feststehe, „dass am Ende Putin schuld ist“. Die „Isolation und Selbstisolation“ Russlands müsse dringend beendet werden. Der Konflikt in der Ostukraine dürfe nicht wieder in Gewalt umschlagen, weil diese Gewalt ihrerseits auf die kriegsführenden Länder zurückfalle.
Gehrcke forderte eine „neue Ostpolitik“ und eine „neue Entspannungspolitik“. Es bleibe zu hoffen, dass der Mord an Nemzow zu einem „Signal der Umkehr“ in Europa werde. „Diese Umkehr ist dringend nötig.“
CDU/CSU: Russland muss den falschen Kurs beenden
Dr. Franz Josef Jung (CDU/CSU) forderte, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. „Täter, Auftraggeber und Motive“ dürften nicht im Dunkeln bleiben wie bei den Morden an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa und Alexander Litwinenko. Jung kritisierte ein auch von den „russischen Staatsmedien“ unterstütztes „Klima von Hass und Hysterie“, in dem „Aggression und Feindschaft“ geschürt und „dunkelsten Kräften“ in die Hände gespielt werde.
Die Politik der Repression gegen Andersdenkende, die Politik des Rechtsbruchs, die Kreml-Politik in Ostukraine – all dies schade Russland. Der wirtschaftliche Niedergang zeige, dass dieser „falsche Kurs“ beendet werden müsse, sagte Jung. Er wünsche sich ein „modernes und freiheitliches Russland, mit dem wir gut zusammenarbeiten können“. Zehntausende Menschen, die Boris Nemzow in Moskau die letzte Ehre erwiesen haben, hätten gezeigt, dass es „viele mutige Bürger gibt, die gegen das Klima der Einschüchterung“ ihre Stimme erheben, sagte Jung. „Sie haben unsere Solidarität und unsere Unterstützung verdient.“
Grüne: Ein Drama für das russische Volk
Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) nannte Nemzow einen „brillanten Kopf, wiederständig und unerschrocken“. Er habe die Entscheidung getroffen, „in Wahrheit zu leben, ohne Rücksicht auf Gefahr – und er wusste, dass er in Gefahr war“. Auch wenn es so schien, dass der russische Präsident Wladimir Putin zu Beginn seiner ersten Amtszeit nach dem System der Oligarchie und der rechtsfreien Räume wieder eine staatliche Ordnung etablieren wolle, so wisse man heute, dass er ein neues System der Geheimdienste und Oligarchen, überwölbt von Korruption und Willkür, geschaffen habe. „Dieses System hat schon immer zu Gewalt gegriffen“ - mit dem Krieg in Tschetschenien, in Georgien, und heute in der Ukraine, sagte Beck.
Den „entfesselten Hass“ in Russland nannte sie ein „Drama für das russische Volk“. Es stehe zu befürchten, dass Putin „die Vertikale der Macht“ bereits zu entgleiten drohe, der Mord an Nemzow unmittelbar in Kreml-Nähe auch eine Botschaft radikaler Kräfte an ihn gewesen sei. Beck erinnerte zugleich daran, dass es „mehr Lebendigkeit und Widerspruchsgeist in der russischen Gesellschaft“ gebe, als die Propaganda des Kremls glauben machen wolle. „Wir sollten an diese Kräfte glauben und nicht zu zaghaft sein.“ (ahe/04.03.2015)